Mittwoch, 3. Februar 2016

Geld und Schulden: Teil II

Im Unterschied zu Systemen, in denen Wertgegenstände als Tauschmittel verwendet werden, entsteht in modernen Volkswirtschaften das Tauschmittel (Geld) durch Kreditvergabe gegen Zinsen. Das hat den Vorteil, dass die Geldmenge nicht begrenzt ist und dass durch die Steuerung der Zinsen die Wirtschaft beeinflusst werden kann.

Generell ist dafür die Zentralbank eines Landes zuständig.

Die Zentralbank hat das Monopol, Bargeld zu drucken. Andere Geldformen wie Bankguthaben sind nur Forderungen auf Bargeld und damit dem Bargeld untergeordnet. Die Zentralbank ist damit der sicherste Schuldner (Sie ist die einzige Organisation, die Bargeld drucken darf und somit nie insolvent werden kann) und wird im Zweifel immer anderen Schuldnern vorgezogen. Gleichzeitig ist die Zentralbank der mächtigste Gläubiger (Sie darf Bargeld drucken, kann also unbegrenzt Kredite vergeben). Die Zentralbank dominiert also die Kreditnachfrage sowie das Kreditangebot.

Diese uneingeschränkte Marktmacht auf dem Kreditmarkt kann die Zentralbank nutzen, um den Preis für Kredite* – den Zinssatz – zu steuern. Damit kann sie beeinflussen, wie viele Personen bzw. Firmen einen Kredit aufnehmen, wie viele Güter nachgefragt werden und wie viel Geld (durch Kreditvergabe) entsteht.

Ziel einer Zentralbank ist typischerweise, dass der Anstieg der durchschnittlichen Preise – die Inflation – einen bestimmten Wert erreicht. Ziel der Europäischen Zentralbank (EZB) ist beispielsweise eine Inflationsrate von „unter aber nahe 2 %“ im Euroraum.

Das wirft die Frage auf: Wie wirkt sich eine Zinsänderung auf die Inflation aus?

Man nehme an, die Zentralbank erhöht den Leitzins. (Das ist der Zinssatz, zu dem sie Kredite an Banken vergibt bzw. der Zinssatz, den sie Banken bezahlt, wenn diese der Zentralbank Geld leihen.)

Aufgrund der Marktmacht der Zentralbank erhöht sich dadurch auch das allgemeine Zinsniveau.

Banken vergeben Kredite dann nur noch zu höheren Zinsen. Das bedeutet wiederum, dass weniger Firmen bzw. Haushalte bereit sind, einen Kredit aufzunehmen. Es wird dann weniger Geld durch Kreditvergabe geschaffen – die Geldmenge sinkt (bzw. steigt langsamer). Außerdem sinkt die Güternachfrage, da die potentiellen Kreditnehmer von dem Geld, das sie sich geliehen hätten (wäre der Zinssatz nicht angestiegen) Güter gekauft hätten. Eine niedrigere Güternachfrage bedeutet wiederum niedrigere (bzw. langsamer steigende) Güterpreise; oder anderes formuliert: niedrigere Inflation.

Ein höherer Leitzins führt also zu niedrigerer Inflation. Analog bewirkt ein niedrigerer Leitzins eine höhere Inflation.

Die Tätigkeit einer Zentralbank ist grob vereinfacht folgende: Befürchtet die Zentralbank, dass die Inflation über den Zielwert ansteigt, erhöht sie den Leitzins, um eine übermäßig hohe Inflation zu verhindern. Wird hingegen befürchtet, dass die Inflation hinter dem Zielwert zurückbleibt, senkt sie die Zinsen. Die Steuerung der Zinsen, um damit das wirtschaftliche Geschehen zu beeinflussen nennt sich Geldpolitik.

Geldpolitik ist in normalen Zeiten das wichtigste Instrument zur Steuerung einer Marktwirtschaft. Es gibt jedoch einen Sonderfall, in dem Geldpolitik allein nicht ausreicht um die Wirtschaft zu stabilisieren. Das ist der Fall, wenn der Leitzins auf Null gesenkt wurde, die Inflation jedoch trotzdem hinter dem Zielwert zurückbleibt. Eine Zentralbank kann den Leitzins nämlich nicht unter Null senken.

Die Wirtschaftsleistung ist dann unverhältnismäßig niedrig, weil nicht genug Güter gekauft werden. Wenn Firmen ihre Güter nicht absetzen können, entlassen sie ihre Mitarbeiter. Die entlassenen Mitarbeiter verlieren Einkommen und kaufen dann noch weniger. Es entsteht eine deflationäre Abwärtsspirale; Sie ist deshalb deflationär, weil die Unternehmen beim verzweifelten Versuch ihre Produkte zu verkaufen ihre Preise senken.

In diesem Fall muss der Staat mit anderen Mitteln als mit Geldpolitik die Wirtschaft anregen. Eine Möglichkeit ist, die fehlende private Nachfrage durch staatliche Nachfrage zu ersetzen. Der Staat kann dafür Kredite aufnehmen. Mit dem geliehenen Geld kauft der Staat dann Güter, zum Beispiel für den Bau von Schulen oder für die Reparatur von Straßen.

Dadurch steigt einerseits die Geldmenge (es wird bei der Kreditvergabe Geld geschaffen) andererseits steigt die Güternachfrage, da der Staat Güter kauft. Das führt zu höheren Güterpreisen bzw. höherer Inflation. Diese Politik ist also geeignet, die Inflation zurück auf den Zielwert zu bringen und die deflationäre Abwärtsspirale zu durchbrechen.

Jemand, der einzelwirtschaftlich denkt könnte einwenden:

„Mehr Staatsschulden, also mehr Schulden, sind immer schlecht“

Wie in Teil I erklärt wurde, sind die Schulden des einen die Guthaben des anderen. Für jeden zusätzlichen Euro Staatsschulden entsteht eine Forderung von jemandem gegen den Staat in gleicher Höhe (in Form einer Staatsanleihe). Alle Menschen insgesamt sind also netto nicht mehr oder weniger verschuldet als ohne neue Staatsschulden. Bei wem auch?

Manchmal hört man auch:

„Die nächste Generation muss unsere Staatsschulden bezahlen“

Wieder wird nach einzelwirtschaftlicher Logik nur eine Seite der Medaille beleuchtet. Übersehen wird Folgendes: Es werden auch Staatsguthaben (Staatsanleihen) in gleicher Höhe an die nächste Generation vererbt! Netto werden also weder Schulden noch Forderungen an die nächste Generation vererbt. Eine Volkswirtschaft kann nur materielle Dinge vererben. Und da höhere Staatsdefizite in bestimmten Situationen wie beschrieben sowohl einen Einbruch der privaten Wirtschaft verhindern als auch Straßen, Schulen etc. finanzieren und damit den materiellen Wohlstand tendenziell erhöhen, wird bei höheren Staatsschulden oft mehr an die nächste Generation vererbt.

Ein Problem gibt es natürlich dann, wenn ein sehr kleiner Teil der nächsten Generation einen sehr großen Teil an Staatsanleihen erbt – also an Forderungen gegen den Rest dieser Generation. Der Großteil der nächsten Generation erbt dann tatsächlich Schulden – an die kleine Oberschicht. Dieses Problem ist allerdings kein Problem der Staatsschulden, sondern der Ungleichheit. Das Problem bestünde nämlich auch, wenn eine kleine Oberschicht eine große Menge an privaten Forderungen gegen die Mittel- und Unterschicht erbt – ganz ohne die Existenz von Staatsschulden.

Einem ähnlichen Fehlschluss liegt folgende Aussage zu Grunde:

„Der Staat, also wir als Bürger, müssen die Zinsen für die Staatsschulden bezahlen“

Frage: An wen zahlt der Staat die Zinsen? Antwort: An seine Bürger, also an uns selbst!

Eine wichtigere Frage wäre wiederum, wie die Vermögen und damit die Zinseinkommen verteilt sind. Sind die Vermögen extrem ungleich verteilt, dann erhält ein sehr kleiner Anteil der Bevölkerung den Löwenanteil an den Zinserträgen. Der Großteil muss die Zinsen zahlen.

Dann muss man jedoch auch das wieder als das Problem nennen: Die Ungleichheit der Vermögen – nicht die Staatsverschuldung, die Zinszahlungen, das Geldsystem, oder sonst irgendwas.

Zur Bekämpfung von Ungleichheit ist ein ausgeglichener Staatshaushalt oder sogar der Abbau von Staatsschulden übrigens nicht unbedingt geeignet. Im Gegenteil: Zum Erreichen eines ausgeglichenen Haushalts werden oft staatliche Leistungen für die unteren und mittleren Einkommensschichten gestrichen – die Ungleichheit wird also tendenziell erhöht.

Eine bessere Möglichkeit zur Reduktion von Ungleichheit ist eine Erhöhung der staatlichen Leistungen für die Unter- und Mittelschicht und Steuererhöhungen für die Oberschicht.


Fazit

Gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge zu verstehen wäre für die Politik extrem wichtig.

Solche Einsichten sind zum Beispiel: Die Einnahmen des einen sind die Ausgaben des anderen. Das Geld (bzw. die Guthaben) von jemandem sind die Schulden von jemand anderem. Der Exportüberschuss eines Landes bedingt ein Exportdefizit eines anderen Landes. Hohe Wettbewerbsfähigkeit eines Marktteilnehmers bedeutet niedrige Wettbewerbsfähigkeit eines anderen. Usw.

Viele Menschen verstehen diese Zusammenhänge nicht – auch da sie aus einer einzelwirtschaftlichen Sicht, die ihnen viel vertrauter ist, nicht gelten. Die Einnahmen einer Person sind z.B. nicht zwingend identisch mit den Ausgaben dieser Person. Analog ist das Guthaben einer Person sind nicht unbedingt gleich hoch wie die Schulden dieser Person.

Leider versteht selbst die Bundesregierung solche Zusammenhänge nicht. Kanzlerin Merkel ist überzeugt, dass alle Länder gemeinsam ihre Wettbewerbsfähigkeit erhöhen können. Finanzminister Schäuble denkt, dass alle Länder einen Exportüberschuss erzielen können. Außerdem hält die Bundesregierung Staatsschulden per se für etwas schlechtes.

Eine aus diesen Fehlschlüssen abgeleitete Politik kann nicht zum Erfolg führen. Die von der Bundesregierung europaweit durchgesetzte Sparpolitik, zum Beispiel, die darauf abzielt, dass alle Länder wettbewerbsfähiger werden und alle ihren Exportüberschuss erhöhen (bzw. ihr Exportdefizit abbauen) muss zwangsläufig scheitern – da sie auf einem logischen Fehlschluss beruht.

Wenn die Leute anfangen, die Zusammenhänge zu verstehen, dann könnte die Politik der Bundesregierung abgewählt und ein neuer Weg eingeschlagen werden. Wenn nicht, dann setzen wir den wirtschaftlichen Niedergang in Europa weiter fort.


* Der Zinssatz wird in der Literatur oft irreführend als Preis für Geld bezeichnet. Der Preis für Geld ist jedoch irrelevant und gleich 1. Wer würde einen Euro für mehr als einen Euro kaufen bzw. wer würde einen Euro für weniger als einen Euro verkaufen?

Dienstag, 2. Februar 2016

Geld und Schulden: Teil I

Viele Dinge einer Wirtschaft, die wir aus dem persönlichen Leben kennen, sind völlig anders, wenn man sie aus der „Vogelperspektive“ betrachtet.

Ein Beispiel dafür sind Ausgaben. Aus einer persönlichen Sicht sind Ausgaben nie erstrebenswert. Man versucht Dinge möglichst billig zu kaufen, um dadurch die Ausgaben niedrig zu halten. Wir wachsen mit dem Verständnis auf: „Hohe Ausgaben sind schlecht.“ Das ist aus subjektiver Sicht auch völlig richtig. Man betrachte jedoch einmal Ausgaben im großen Zusammenhang:

Wenn jemand 100 Euro weniger für etwas ausgibt, dann gehen bei jemand anderem die Einnahmen um 100 Euro zurück. Wenn der andere auf die 100 Euro angewiesen ist, kann das problematisch sein. Die subjektive Einsicht „Hohe Ausgaben sind schlecht“ ist also nicht ohne weiteres auf die gesamtwirtschaftliche Ebene übertragbar, da die Ausgaben des einen immer die Einnahmen von jemand anderem sind – und Einnahmen sind aus subjektiver Sicht wiederum gut.

Jemand mit bloßem Verständnis für einzelwirtschaftliche Zusammenhänge könnte denken, es wäre eine gute Idee, per Gesetz Einnahmen zu fördern und Ausgaben zu verhindern. Das verstößt jedoch gegen die gesamtwirtschaftliche Logik: Ein Einzelner kann gleichzeitig seine Einnahmen erhöhen und seine Ausgaben senken und dadurch seine wirtschaftliche Situation verbessern. Es lassen sich jedoch nicht die Einnahmen insgesamt erhöhen und gleichzeitig die Ausgaben insgesamt reduzieren. Die Summe aller Einnahmen ist nämlich immer gleich der Summe aller Ausgaben.

Dieses Beispiel mag absurd klingen, jedoch argumentiert selbst die Bundesregierung oft gegen eine solche Logik.

Finanzminister Schäuble versteht zum Beispiel nicht, dass ein Exportüberschuss eines Wirtschaftsraums zwingend ein Exportdefizit eines anderen Wirtschaftsraums bedeutet. Er denkt offensichtlich, jeder Wirtschaftsraum könne unabhängig von allen anderen Ländern Überschüsse oder Defizite haben. Schäuble wörtlich: „Das amerikanische Defizit wird nicht besser wenn ein europäisches Defizit hinzugefügt wird.“Richtig ist jedoch: Ein Land kann nur einen Überschuss machen, wenn ein anderes Land ein entsprechendes Defizit macht. Man kann deshalb die zwei größten Wirtschaftsräume der Welt, Amerika und Europa, nicht isoliert voneinander betrachten. Ein europäisches Defizit begünstigt natürlich einen amerikanischen Überschuss – und umgekehrt.

Kanzlerin Merkel spricht davon dass alle Länder ihre Wettbewerbsfähigkeit erhöhen sollen.** Sie versteht nicht, dass die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit eines Marktteilnehmers mit dem Verlust von Wettbewerbsfähigkeit anderer einhergeht. Wenn ein Land seine Preise senkt, andere Länder damit unterbietet und dadurch einen Wettbewerbsvorteil erlangt, dann verlieren zwingend andere Länder in gleichem Maß an Wettbewerbsfähigkeit.

Eine Politik, die auf diesen Fehlschlüssen basiert, muss zwangsläufig scheitern. Es wird nicht passieren, dass alle Länder gleichzeitig wettbewerbsfähiger werden und jedes Land dann Exportüberschüsse macht – weil es logisch unmöglich ist! Diese Strategie hat zwar für Deutschland das als einzelnes Land funktioniert. Man kann das Erfolgsrezept jedoch nicht auf alle Länder gleichzeitig übertragen.

Leider nehmen die deutschen Medien ihre Aufgabe, wirtschaftliche Zusammenhänge zu erklären, nicht hinreichend wahr und verteidigen mit nur wenigen Ausnahmen die Politik der Bundesregierung. Das führt dazu, dass die Konsumenten der Medien und damit die Bevölkerung uninformiert bleiben und über wirtschaftliche Dinge weiterhin nur subjektiv nachdenken können ohne das große Ganze zu verstehen. Die subjektive Sichtweise ist sehr intuitiv und tief in uns verankert, da wir alle mit ihr aufwachsen. Eine objektive Sichtweise erscheint oft unlogisch.

Das zentrale Ziel dieses Blogs ist es, eine objektive Sicht auf die Wirtschaft zu vermitteln und gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge zu erklären.


In diesem Sinn wird nun etwas vorgestellt, mit dem wir ständig aus subjektiver Sicht zu tun haben, jedoch fast nie im großen Zusammenhang: Geld.

Als Geld wird alles bezeichnet, das als Tauschmittel akzeptiert wird; also im Prinzip alles, mit dem man im Supermarkt bezahlen kann. Die wichtigsten Formen von Geld sind Bargeld (Geldscheine und Münzen) und Bankguthaben.

Viele Menschen wachsen mit der Vorstellung auf, Geld sei ein Wertgegenstand. Das ist ein Modell, das für den Alltag völlig ausreicht. Geld hat jedoch eigentlich keinen Sachwert, es ist nur eine Forderung. Im Fall von Bargeld ist es eine Forderung gegen die Zentralbank. Im Fall von Bankguthaben ist Geld eine Forderung gegen die entsprechende private Bank.

Mit dieser Einsicht kann man bereits einige weit verbreitete Irrtümer über Geld widerlegen, die unserem alltäglichen Denken geschuldet sind.


„Banken müssen Geld haben, um Kredite vergeben zu können“

Da eine Bank jederzeit einem Kunden einen Betrag auf dessen Konto gutschreiben kann, benötigt sie kein Geld um Kredite zu vergeben. Bei der Kreditvergabe entsteht neues Bankguthaben – also neues Geld. Bankguthaben sind schließlich nur Forderungen der Kunden gegen die Bank. Da sie allgemein als Tauschmittel akzeptiert werden, gelten sie als Geld. Aus Sicht der Bank sind die Bankguthaben der Kunden Schulden gegenüber den Kunden.


„Schulden sind schlecht, Guthaben sind gut“

Aus subjektiver Sicht ist das korrekt; objektiv gilt: Jedem Euro Schulden steht immer ein Euro Guthaben (Geld oder andere Forderungen) gegenüber. Zu sagen, Schulden seien schlecht ist also gleichbedeutend mit damit zu sagen, Guthaben seien schlecht. Die oben genannte Aussage ist also objektiv genauso falsch wie die Aussage, Einnahmen seien gut und Ausgaben seien schlecht.


„Die Geldmenge ist begrenzt“

Aus der Tatsache, dass Geld eine Forderung ist, folgt auch, dass die Geldmenge prinzipiell durch nichts begrenzt ist. Früher war Geld einmal eine Forderung auf Gold. Wenn ein Staat sicher gehen wollte, dass die Menschen nicht mehr Geld für Gold eintauschen wollen als die Zentralbank hat, waren die Goldbestände der Zentralbank eine gewisse Begrenzung für die Geldmenge. Man konnte aber bereits damals mehr Geld in Umlauf bringen als die Zentralbank tatsächlich an Gold hatte. Seitdem die Goldbindung aufgehoben wurde ist Geld, wenn man so will, nur noch eine Forderung auf Bargeld. Und da die Zentralbank so viel Bargeld drucken kann, wie sie möchte, ist eine Ausweitung der Geldmenge prinzipiell unbegrenzt möglich.


„Der Staat legt die Geldmenge fest“

Diese Aussage ist auch ein weit verbreiteter Irrtum. Jedes mal, wenn eine Bank einen Kredit vergibt und dabei jemandem Geld auf sein Konto gutschreibt entsteht Geld. Das Bankguthaben, das vorher noch nicht existiert hat, wird nämlich als Tauschmittel akzeptiert und zählt zur Geldmenge.
Eine Bank muss den Staat nicht um Erlaubnis bitten, einen Kredit vergeben zu dürfen. Die Geldmenge steigt mit jedem vergebenen Kredit und sinkt mit jedem zurückgezahlten Kredit. Ergo, der Staat kontrolliert die Geldmenge nicht – zumindest nicht direkt. Der Staat kann nur Anreize setzen, wie viele Kredite die Banken vergeben und kann dadurch indirekt die Geldmenge beeinflussen. Das nennt sich Geldpolitik und wird in Teil II näher erklärt.


„Das Geldsystem ist von sich aus stabil“

Da Geld eine Forderung ist, beruht der Wert des Geldes auf dem Vertrauen, dass die Forderung entsprechend viel wert ist.

Es ist denkbar, dass das Geld durch eine hohe Inflation – also einen hohen Preisanstieg – an Wert verliert, da man sich dann für einen Euro deutlich weniger kaufen kann. Man benötigt also Vertrauen in das Inflationsziel. Im Fall von Bankguthaben muss man zusätzlich darauf vertrauen, dass seine Bank nicht Pleite geht und man für sein Guthaben im Zweifel entsprechend Bargeld bekommt.

Vertrauen ist offenkundig fragil und kann von heute auf morgen verschwinden – das Geldsystem ist also von sich aus alles andere als stabil. Es ist daher eine wichtige Aufgabe des Staates, Vertrauen in das Geldsystem zu schaffen und zu erhalten.

Um Vertrauen in das Inflationsziel zu schaffen haben die Staaten die Verwaltung des Geldsystems an eine unabhängige Institution, die von Experten geleitet wird, ausgelagert: An die Zentralbank. Oberstes Ziel einer Zentralbank ist in der Regel, ein Inflationsziel zu erreichen. Teil II beschäftigt sich näher damit, wie genau eine Zentralbank funktioniert.

Vertrauen in die privaten Bankguthaben schafft der Staat durch ein Einlagensicherungssystem. In Europa garantiert der Staat, Bankguthaben bis zu 100.000 Euro auszuzahlen falls eine Bank Pleite geht. Mit dieser Garantie müssen die Menschen nicht spekulieren, ob ihre Bank gefährdet ist, Pleite zu gehen. Sie können darauf vertrauen, im Zweifel Bargeld vom Staat für ihre Bankguthaben zu bekommen. Zusätzlich gehört es zur Aufgabe einer Zentralbank, solventen Banken im Falle von Liquiditätsproblemen jederzeit entsprechend Bargeld zu leihen, um unnötige Bankpleiten zu verhindern. Auch das schafft Vertrauen und Stabilität.

Die Tatsache, dass das Geldsystem in den vergangenen Jahrzehnten stabil war, ist also keine Folge einer intrinsischen Stabilität, sondern gezielter staatlicher Eingriffe.


Donnerstag, 31. Dezember 2015

Griechenland im Jahresrückblick


Die Vorgeschichte
Ab dem Jahr 2010 bekommt Griechenland Kredite von der sogenannten „Troika“ (EU-Kommission, EZB und IWF). Die Vertreter der Troika denken damals, dass ein strikter Sparkurs das Land nach dem Einbruch durch die Finanzkrise wieder wirtschaftlich auf die Beine bringt. Deshalb knüpfen sie die Gewährung der Kredite an die Bedingung, dass ein striktes Sparprogramm durchgesetzt wird.

Der IWF (dem hohe Kompetenz in Wirtschaftsfragen zugesprochen wird) prognostiziert im Jahr 2010, dass mit der Umsetzung des Sparprogramms das griechische BIP im Jahr 2011 zwar leicht sinken wird (um 1 %), schon 2012 jedoch wieder wachsen wird und dass die Arbeitslosigkeit im Jahr 2012 mit knapp 15 % ihren Höchststand erreichen wird.

Die Ökonomen des IWF übersehen jedoch, dass ein Sparkurs ohne Zinssenkungen der Zentralbank nicht zu einem Aufschwung führen kann – sondern die Krise nur verschärft.

Deshalb geht das griechische BIP im Jahr 2011 nicht um 1 % zurück, sondern um 9 % (!). Im Jahr 2012 beträgt das Wachstum nicht +1 %, wie prognostiziert, sondern die Wirtschaft bricht um weitere 7 % ein. Die Arbeitslosigkeit steigt bis 2013 auf 27 %. Bis Ende 2014 geht die Wirtschaftsleistung insgesamt um knapp ein Viertel zurück, die Arbeitslosigkeit verbleibt auf dem hohen Niveau, die Jungendarbeitslosigkeit steigt auf Werte jenseits der 60 % und die Anzahl der Selbstmorde steigt stark an.

Das Experiment, Griechenland durch einen Sparkurs zu heilen, ist auf allen Linien gescheitert. Für jeden, der nicht nur deutsche Medien verfolgt, ist das offensichtlich.


Die folgende Übersicht stellt die Situation auf dem Kreditmarkt am Ende des Jahres 2014 dar:
Die griechische Wirtschaft finanziert sich teilweise auf den Finanzmärkten, hauptsächlich jedoch durch Kredite der Troika, die an die Einhaltung des Sparkurses gebunden sind. Eine zusätzliche Finanzierungsquelle ist der übliche Weg durch das griechische Bankensystem, welches wiederum Refinanzierungs-kredite von der EZB erhält (mit griechischen Staatsanleihen als Sicherheit).


Das Jahr 2015

25. Januar – Syriza gewinnt Parlamentswahl

Die Folgen der Sparpolitik und die Verarmung der Bevölkerung führen zum Wahlsieg der linken Partei Syriza, die verspricht, den radikalen Sparkurs zu beenden. Am Tag darauf wird Syriza-Chef Tsipras zum neuen Ministerpräsident ernannt und verspricht die Auflagen für die Kredite neu zu verhandeln.

Die Troika sieht dadurch die Bedingungen für die Kredite nicht mehr erfüllt und stoppt das Kreditprogramm. Die Märkte werden nervös und stoppen ebenfalls ihre Kredite an Griechenland. Es bleibt die übliche Finanzierung durch den Bankensektor, um die Wirtschaft mit Liquidität zu versorgen.


4. Februar – EZB verschärft Kreditbedingungen

Kurz darauf beschließt die EZB griechische Staatsanleihen zukünftig nicht mehr als Sicherheit für Refinanzierungskredite zu akzeptieren. Es bleiben die sogenannten „ELA-Kredite“ der EZB. Das sind Notkredite, die von der jeweiligen Zentralbank gewährt werden, um den Kollaps des Bankensystems eines Landes zu verhindern.

Es vergeht nun einige Zeit mit Verhandlungen zwischen der Troika – angeführt von der deutschen Bundesregierung – und der griechischen Regierung; ohne Erfolg. Die Troika gibt kein Stück nach und bietet Kredite nur gegen harte Sparauflagen an. Tsipras hatte jedoch vor der Wahl versprochen, den strikten Sparkurs zu beenden und akzeptiert deshalb nicht.


26. Juni – Tsipras kündigt Referendum an

Kurz bevor eine Rate des IWF fällig wird, erklärt Tsipras, ein Referendum über die Sparmaßnahmen abhalten zu wollen. Sollte Griechenland mit Ja stimmen, werde er dem Angebot der Troika zustimmen. Falls Griechenland mit Nein stimme, erhoffe er sich eine bessere Verhandlungsposition mit der Troika, die den demokratischen Willen eines Mitgliedslandes dann hoffentlich nicht ignoriert.


28. Juni – EZB stoppt ELA-Kredite

Führende EU-Politiker verurteilen Tsipras' Plan, das Volk zu befragen. Der Präsident der EU-Kommission sagt, er fühle sich durch die Ankündigung des Referendums verraten. Der Präsident des EU-Parlaments bezeichnet das Referendum als manipulativ. Der Chef der Eurogruppe sowie hohe Politiker der EU-Staaten drohen, dass Griechenland aus dem Euro geworfen wird, sollte das Volk mit Nein stimmen. Zusätzlich schneidet die EZB das griechische Bankensystem nun völlig von der Liquiditäts-versorgung ab, indem sie ab sofort keine zusätzlichen ELA-Notkredite mehr gewährt.


29. Juni – Banken werden geschlossen

Die griechische Regierung lässt sich jedoch nicht einschüchtern. Sie lässt alle Banken schließen und schränkt den Zahlungsverkehr stark ein. Griechische Bankkunden können daraufhin nur noch   60 € täglich abheben, damit das verbleibende Bargeld der Banken ausreicht bis das Referendum abgehalten ist und es eine Einigung mit der Troika gibt.


30. Juni – Griechenland zahlt IWF-Rate nicht

In der Konsequenz zahlt Griechenland auch die Rate des IWF-Kredits nicht zurück und ist damit offiziell im Zahlungsverzug.


5. Juli – Referendum

Das Referendum ist ein großer Erfolg für Tsipras und die griechische Regierung. Über 61 % der Wähler stimmen gegen den Sparkurs, nur 39 % dafür.

Die Troika ist vom Ergebnis des Referendums allerdings nicht beeindruckt und bietet nur ein noch strikteres Sparprogramm an – das Angebot von vor dem Referendum hat die Troika mittlerweile zurückgezogen.

Tage vergehen.

Griechenlands Banken verlieren mit jedem Tag an Liquidität, sind aber von der Liquiditätsversorgung der EZB abgeschnitten. Griechenlands Bankensektor wird also innerhalb kurzer Zeit kollabieren, wenn nichts geschieht.


13. Juli – Tsipras akzeptiert

Nach 17-stündigen Verhandlungen akzeptiert Tsipras schließlich das noch striktere Sparprogramm um den Zusammenbruch des Bankensektors zu verhindern. Mit Stimmen der Opposition passiert es zwei Tage später das Parlament.


20. August – Tsipras tritt zurück

Da ein Teil der Syriza-Abgeordneten die Kehrtwende des Ministerpräsidenten nicht mitträgt und Tsipras dadurch keine Mehrheit im Parlament mehr hat, tritt er zurück und macht den Weg für Neuwahlen frei.


20. September – Tsipras gewinnt Neuwahlen

Die Wahlbeteiligung geht aus Frust über die Ohnmacht der griechischen Regierung zurück. Dennoch wird Tsipras mit großer Mehrheit wiedergewählt.


4. Oktober – Wahlen in Portugal

Eine Gruppe linker Parteien gewinnt die Wahlen in Portugal. Die Regierungspartei, die einen Sparkurs verfolgt hatte, ist damit abgewählt. Der neue Regierungschef, der gewählt wurde um die Sparpolitik zu beenden, sagt nach den Wahlen trotzdem zu, die EU-Vorschriften bezüglich der Staatsfinanzen einzuhalten – vielleicht abgeschreckt vom Umgang der Troika mit Griechenland.


20. Dezember – Wahlen in Spanien

In Spanien verliert die konservative Regierungspartei, die den Sparkurs umgesetzt hatte, die absolute Mehrheit und erhält nur noch 29 % der Stimmen. Die neu gegründete Partei Podemos, deren Hauptziel ein Ende des harten Sparkurses ist, erhält aus dem Stand 20 % der Stimmen. Das Ergebnis reicht zwar vielleicht noch für eine Koalition der Sparkurs-Befürworter. Der zunehmende Widerstand gegen die Sparpolitik wird dennoch deutlich.


Die Rolle der EZB
Große Aufmerksamkeit verdient das Verhalten der EZB im Griechenland-Drama. Das Folgende Zitat aus dem August 2015 stammt von Benoît Cœuré, einem Mitglied des EZB-Direktoriums:

Bankenaufseher bei der EZB haben eine neue Prüfung der Qualität von Vermögenswerten sowie einen Stresstest für Griechenlands vier größte Banken begonnen. Diese Kreditinstitute waren adäquat kapitalisiert, sie operieren jedoch jetzt in einem extrem schwierigen wirtschaftlichen Umfeld und notleidende Kredite werden wahrscheinlich in den nächsten Jahren zunehmen. *

Er sagt also – in einem Interview, das auf der offiziellen Seite der EZB zu lesen ist – dass die griechischen Banken „adäquat kapitalisiert“ waren, nun jedoch große Probleme haben. Irgendetwas muss also passiert sein, das die Banken an den Rand des Bankrotts gebracht hat. Das einzige wichtige Ereignis, das die Banken betrifft und kurz zuvor stattgefunden hatte, war die Verweigerung der Notkredite durch die EZB.

Wer nun eins und eins zusammenzählt, kommt zu dem Schluss, dass die EZB aus politischem Kalkül das funktionierende, griechische Bankensystem destabilisiert hat und dadurch dem griechischen Bankensystem langfristig Schaden zugefügt hat – wirtschaftlich waren die Banken laut Cœuré schließlich in Ordnung.

So etwas ist der EZB natürlich nicht erlaubt! Wenn die griechischen Banken tatsächlich hinreichend Eigenkapital hatten, dann handelt es sich um einen klaren Machtmissbrauch der Troika. Die EZB darf nicht ihre Aufgabe als Zentralbank aller Euroländer – und damit als Zentralbank Griechenlands – vernachlässigen; erst recht nicht aus politischen Gründen.


Was lernen wir?
Das Jahr 2015 und die Griechenland-Krise war wichtig für die Zukunft Europas. Nicht weil Griechenland eine große Volkswirtschaft wäre und deshalb den Rest Europas wirtschaftlich gefährden könnte; sondern weil sich zum ersten mal ein Land der Eurozone gegen das Spardiktat der Troika – unter Führung von Merkel und Schäuble – aufgelehnt hat und man die Reaktionen sehen konnte.

Im Fall Griechenlands war es eine pro-europäische, linke Regierung, die ihren Wählern versprochen hatte, die harten Sparauflagen zu lockern, die das Land nachweislich in eine katastrophale Wirtschaftskrise gestürzt haben.

Die Antwort der Troika war eindeutig. Der demokratische Wille des griechischen Volks wurde unterdrückt und mit einer Destabilisierung des griechischen Bankensektors wurde Griechenland gezwungen, den Sparkurs in aller Härte fortzusetzen.

Dieses Vorgehen hat der Troika kurzfristig Erfolg gebracht: Griechenland ist zurück auf einem Sparkurs; auch Portugal und (vermutlich) Spanien setzen ihren Sparkurs nach den Wahlen weiter um.

Wenn die Troika diese Politik fortsetzt, lässt sie den Menschen in Europa allerdings keine andere Möglichkeit, die destruktiven Spardiktate zu beenden, als rechte, nationalistische Parteien zu wählen, die Europa den Mittelfinger zeigen und aus dem Euro austreten. Gerade die undemokratische und ggf. illegale Durchsetzung der Sparpolitik, die so vielen Menschen Not und Elend bringt, erzeugt Hass auf Europa und treibt die Menschen in die Hände von Anti-Europäern und Nationalisten. Wenn die europäischen Institutionen ihre Politik in den nächsten Jahren nicht ändern, werden rechte Bewegungen weiter erstarken.

Die rechte Gefahr birgt jedoch auch eine Chance: Vielen Regierungschefs der Eurozone müsste bald bewusst werden, dass sie ihren Job an rechtsextreme Kontrahenten verlieren können, wenn sie das deutsche Spardiktat weiter tolerieren. Hoffentlich lehnen sie sich dann gegen die von der Bundesregierung vorangetriebene europäische Sparpolitik auf. Dafür hätten sie seit diesem Jahr potentielle Verbündete in Griechenland und Portugal. Eine solche Allianz könnte Merkel und Schäuble in einen Diskurs zwingen und bewirken, dass die Bundesregierung ihre Wirtschaftspolitik fundamental ändert, was für die Lösung der Eurokrise extrem wichtig ist.

Große Hoffnungen für das Jahr 2016…


* “banking supervisors at the ECB have started a new asset quality review and stress test for Greece’s four major banks. Those credit institutions were adequately capitalised, but they are now operating in an extremely difficult economic environment, and non-performing loans are likely to increase in the next few years.” ECB: Interview of Benoît Cœuré, Member of the Executive Board of the ECB


Samstag, 19. Dezember 2015

Die Eurokrise verstehen und beenden

“Mittlerweile ist das europäische Ungleichgewichts-Problem ein deutsches Problem, verursacht durch Deutschlands andauerndes Versagen, Lohn- und Preissteigerungen zu haben, die im Einklang damit sind, was der Euro verlangt. Diese deutsche Unterbewertung exportiert wiederum Deflation in den Rest Europas. Im Gegensatz dazu haben sich Frankreich, Spanien und sogar Italien an die Regeln gehalten.” 1

Paul Krugman, Nobelpreisträger der Ökonomie



“Was jedoch ein Problem ist, ist dass Deutschland effektiv beschlossen hat, sich auf ausländische, anstatt auf inländische Nachfrage, zu verlassen, um Vollbeschäftigung im Inland zu sichern, wie der außerordentlich hohe und anhaltende Handelsüberschuss von derzeit fast 7,5 % des deutschen BIP zeigt. In einem System fester Wechselkurse wie der Euro-Währungsunion sind solche andauernde Ungleichgewichte schädlich. … Wichtig ist, dass Deutschlands Handelsüberschuss die ganze Last der Anpassung den Ländern mit Handelsdefiziten aufbürdet, die eine schmerzvolle Deflation der Löhne und
anderer Kosten durchmachen müssen, um wettbewerbsfähiger zu werden. Deutschland könnte helfen, ein Gleichgewicht in der Eurozone wiederherzustellen … durch höhere Ausgaben im Inland, etwa dadurch, die Investitionen in Infrastruktur zu erhöhen [und] durch Fördern von Lohnerhöhungen für deutsche Arbeitnehmer.” 2

Ben Bernanke, Chef der US-Notenbank, 2008–2014



“Die deutsche Inflation, die unterhalb dem Rest der Eurozone war, wird für einige Zeit über dem Rest der Eurozone sein müssen. Das sind die Spielregeln für eine Währungsunion.
Da Deutschland der Ausreißer ist, handelt es sich um ein von Deutschland verursachtes Problem. … Einen Preis, den es dafür bezahlen sollte, seine Nachbarn zu unterbieten, ist, eine Zeit mit einer Inflation oberhalb des EZB-Ziels (z.B. 3% Verbraucherpreis-Inflation, was wahrscheinlich nominale Lohnerhöhungen von etwa 4 bis 5 % bedeutet). Wenn das nicht von selbst passiert, sollte Deutschland seine Wirtschaft anregen, um sicherzustellen, dass es passiert.” 3

Simon Wren-Lewis, Professor für Ökonomie an der Oxford University



“Hätte Deutschland nicht so eklatant versagt, hätte die Währungsunion durchaus funktionieren können, weil bei den meisten Ländern der Wille da war, sich an das Inflationsziel von etwa zwei Prozent anzupassen. Hätte man die Bedeutung dieses Ziels von Anfang an verstanden, hätte man auch frühzeitig eingreifen können, um das Schlimmste zu verhindern.

Fast alle Probleme in Europa ließen sich lösen, weil der Merkantilismus in erster Linie ein deutsches Phänomen ist” 4

Heiner Flassbeck, Chef-Ökonom der UN-Organisation für Handel und Entwicklung, 2003–2012



“Es wird dabei die Rolle Deutschlands, des mit Abstand größten Mitgliedstaats, und sein Beitrag zu den Ungleichgewichten in den Jahren vor der Krise vernachlässigt. … Für ein optimales Funktionieren der Eurozone sollten die Lohnstückkosten jedes Mitgliedstaats im Einklang mit der Inflationsrate der EZB steigen. Dies würde zu nationalen Inflationsraten nahe der Zielrate der EZB führen. Gemessen an diesem Maßstab … waren die Löhne der deutschen Volkswirtschaft im Jahr 2008 fast 20 % zu niedrig.” 5

Peter Bofinger, Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung



Konsumenten deutscher Medien haben mit Sicherheit Schwierigkeiten, diese Aussagen der angesehensten Ökonomen der Welt zu verstehen.

Doch keine Angst – man braucht dafür keinen Doktortitel. Die Schlussfolgerungen ergeben sich aus ein paar simplen ökonomischen Zusammenhängen. Das Problem ist nur, dass diese in den deutschen Medien größtenteils verschwiegen bzw. falsch dargestellt werden.

Dieser Beitrag erklärt die Zusammenhänge und macht die Eurokrise für jeden klar verständlich.



Die Eurokrise verstehen und beenden

Bereits in der Zeit vor der Einführung des Euro – mit unterschiedlichen Währungen in Europa – war die Wirtschaftspolitik der verschiedenen Länder in Europa weitgehend unabhängig voneinander und damit sehr heterogen. Auch damals hatte beispielsweise Italien eine geringere Produktivität als Deutschland und Griechenland ein ineffizientes Steuersystem. Dennoch gab es damals keine großen Probleme im Handel zwischen den Staaten. Der Grund dafür war ein Ausgleichsmechanismus, der mittelfristig Ungleichgewichte beseitigte: eine Anpassung des Wechselkurses.

Man nehme eine Situation an, in der kein Ungleichgewicht bestand. Jedes Land exportierte etwa so viel, wie es importierte. Kein Land häufte übermäßig Schulden bzw. Forderungen gegen ein anderes Land an.

Es kam nun des Öfteren vor, dass beispielsweise Italien über einige Jahre hinweg eine relativ expansive Wirtschaftspolitik fuhr – Deutschland hingegen eine vergleichsweise restriktive Politik. (Man vernachlässige zur Einfachheit die anderen Länder.) Dadurch hatte Italien eine höhere Inflation als Deutschland. (Inflation ist der jährliche Anstieg des „Preisniveaus“, also der durchschnittlichen Preise in einem Land) Das bedeutete, dass italienische Produkte – verglichen mit deutschen – dann teurer waren als vorher. Die Folge war, dass Italiener anfingen auf deutsche Produkte zu wechseln und Deutsche statt italienischer Importe vermehrt heimische Produkte kauften.

Die italienische Nachfrage nach Gütern war zu hoch – höher als das Angebot an italienischen Gütern. Die deutsche Nachfrage nach Gütern war zu gering – relativ zum deutschen Güterangebot. Italien hatte ein Exportdefizit (mehr Importe als Exporte), Deutschland den entsprechenden Überschuss (mehr Exporte als Importe). Italien wurde zum Schuldner, Deutschland baute Forderungen auf.

Dieses Ungleichgewicht ließ sich einfach beheben, da jedes Land seine eigene Währung hatte und man den Wechselkurs zwischen den Währungen ändern konnte. Die italienische Währung (Lira) musste abwerten (eine Lira wurde dann weniger DM wert). Die deutsche Währung (DM) musste aufwerten (für eine DM bekam man dann mehr Lire).

Die Folge war, dass deutsche Güter – im Vergleich zu italienischen – wieder teurer wurden. Die Italiener bekamen nämlich für eine Lira weniger DM, sie mussten also mehr Lire für ein deutsches Produkt bezahlen. Italienische Produkte wurden entsprechend (relativ) billiger.

Das führte dazu, dass Italiener wieder zurück auf italienische Güter wechselten und Deutsche wieder mehr Importe aus Italien nachfragten. Jedes Land exportierte dann wieder ungefähr so viel, wie es importierte. Das Ungleichgewicht war behoben.

Nun hat man das System flexibler Wechselkurse und damit den Anpassungsmechanismus im Jahr 1999 aufgegeben und stattdessen eine Einheitswährung eingeführt: den Euro. Jedes teilnehmende Land hat seitdem einen unveränderlichen Wechselkurs von eins zu eins mit jedem anderen Land der Währungsunion. Man bekommt z.B. für einen deutschen Euro immer genau einen italienischen Euro. Eine Anpassung des Wechselkurses ist seitdem nicht mehr möglich. 

Weise Politiker hätten versucht, einen anderen Mechanismus zu installieren, der ohne die Möglichkeit von Auf- und Abwertungen ein Auseinanderlaufen der Preisniveaus verhindert – und damit Ungleichgewichten vorbeugt. Das ist leider nicht geschehen.

Stattdessen hat die deutsche Politik (bewusst oder unbewusst) eine andere Strategie verfolgt: Den Wegfall des Ausgleichmechanismus nutzen, um ein Ungleichgewicht zu erzeugen, von dem Deutschland auf Kosten der anderen profitiert.

Durch extrem restriktive Wirtschaftspolitik (Stichwort Agenda 2010) wurde die deutsche Güternachfrage stark gebremst und damit die Inflation deutlich unter der durchschnittlichen Inflation der Eurozone gehalten. Deutsche Produkte wurden Jahr für Jahr billiger – relativ zu Produkten aus dem Rest der Eurozone. Das führte dazu, dass das deutsche Preisniveau mittlerweile deutlich unter dem Rest der Eurozone liegt.

Deutschland exportiert mehr als es importiert, andere Länder importieren mehr als sie exportieren.

Spätestens in der Folge der Finanzkrise von 2008, als dieses Ungleichgewicht offensichtlich wurde, hätte man eine gemeinsame Lösung zur Behebung der Krise suchen müssen. Die naheliegende Lösung wäre gewesen, durch eine aktivere Wirtschaftspolitik in Deutschland für einige Zeit eine höhere Inflation zu erlauben, während die Defizitländer durch restriktivere Maßnahmen ihre Inflation für einige Zeit niedriger halten. Das hätte die relativen Preisniveaus wieder angeglichen und das Ungleichgewicht behoben – genau das, was eine Aufwertung der DM bewirkt hätte.

Man versuchte jedoch einen anderen Weg: Austerität in den Defizitländern ohne Anpassung in Deutschland. Zu Beginn dachten nämlich viele, dass eine relative Preisniveausenkung in den Defizitländern durch strikte Austerität ohne einen großen Einbruch der Wirtschaft zu bewerkstelligen sei. Mittlerweile ist klar, dass das nicht geht.

Das beste Beispiel ist Griechenland. Die Austeritätspolitik, die Griechenland diktiert wurde, ließ – zusammen mit der Finanzkrise – das griechische BIP um 25% einbrechen und die Arbeitslosigkeit explodieren.

Zwar nähert sich Griechenland durch die austeritätsbedingte Deflation (sinkende Preise) dem deutschen Preisniveau an, jedoch sind die sozialen Folgen nicht so lange zumutbar bis Griechenland das deutsche Preisniveau erreicht hat. Es wäre daher an der Zeit, dass Deutschland eine etwas expansivere Politik fährt, um Griechenland und den anderen Krisenländern mit seinem Preisniveau entgegen zu kommen. Eine etwas höhere Inflation ist nämlich – im Gegensatz zu Deflation – nicht so schädlich für eine Volkswirtschaft und geht typischerweise mit hohem Wirtschaftswachstum und niedriger Arbeitslosigkeit einher.

Jedoch streiten die verantwortlichen Politiker bis heute jegliche Mitschuld Deutschlands an dem Ungleichgewicht ab und weigern sich dagegen, das deutsche Preisniveau anzupassen. Es wird bestritten, dass der deutsche Exportüberschuss ein Problem ist, weil nicht verstanden wird, dass ein Überschuss in Deutschland ein Defizit anderswo bedeutet. 

Richtig ist jedoch, dass man ein Defizit nicht abbauen kann, wenn die Handelspartner ihren Überschuss nicht verringern wollen. Es ist daher unsinnig, von den Defizitländern zu verlangen, ihre Defizite abzubauen, gleichzeitig aber seinen Überschuss zu verteidigen.

Man zwingt also – entgegen jeglicher Logik – die Defizitländer weiter Austeritätsprogramme umzusetzen und den unsinnigen Kampf um ein (relativ!) niedriges Preisniveau weiter zu betreiben.

Die EZB – deren Aufgabe es ist, für eine durchschnittliche Inflation von nahe 2% zu sorgen – kann dem Kampf der Länder um möglichst niedrige Inflation (bzw. möglichst hohe Deflation) mittlerweile nichts mehr entgegen setzten, da sie mit einem Leitzins von de facto Null am Limit ihrer geldpolitischen Möglichkeiten angelangt ist. In ihrem verzweifelten Kampf gegen Deflation begann sie dieses Jahr ein „Quantitative Easing“-Programm, dessen beschränkte expansive Wirkung jedoch mit erheblichen Risiken verbunden ist.

Die Krisenländer müssen im Übrigen hoffen, dass Deutschland nicht irgendwann selbst auf Deflationskurs geht, um sein (im Vergleich zu den anderen) niedriges Preisniveau und damit seine Exportmärkte zu verteidigen. In diesem Fall könnten die Defizitländer ewig Austerität und Deflation betreiben und würden Deutschland trotzdem nie einholen.

Dass das Ungleichgewicht jedoch nicht ewig aufrecht zu erhalten ist, sollte jedem klar sein. Wenn die Preisniveaus nicht angepasst werden, wird früher oder später der Euro zerbrechen.

Der große Verlierer wäre dann aus zwei Gründen Deutschland selbst.

Zum ersten müsste Deutschland einen erheblichen Teil seiner Auslandsforderungen abschreiben, da die Schuldner mit einer neuen Währung niemals die auf Euro lautenden Schulden bedienen könnten. Die deutschen Nettoexporte, die von deutschen Arbeitnehmern zu unverhältnismäßig niedrigen Löhnen produziert wurden, würden dann nie bezahlt werden. Das würde erhebliche Lasten für den deutschen Staat bedeuten, auf den in den kommenden Jahrzehnten ohnehin große finanzielle Schwierigkeiten durch die demographische Entwicklung zukommen. (Die Bankenlobby hat erreicht, dass die Staaten den privaten Banken ihre fragwürdigen Forderungen abkaufen – deshalb haftet nun die Gemeinschaft für Zahlungsausfälle.)

Zweitens verliert Deutschland an dem Tag, an dem es eine Währung mit gleichgewichtigem Wechselkurs einführt alle Exportmärkte, die auf dem derzeit zu geringen Preisniveau basieren. Der Exportsektor würde zusammenbrechen und die Arbeitslosigkeit würde quasi über Nacht dramatisch ansteigen. Das hätte ebenfalls erhebliche negative Konsequenzen.

Es wird deshalb Zeit, dass die Bundesregierung eine expansivere Wirtschaftspolitik betreibt. Der Mindestlohn von €8,50 reicht bei weitem nicht aus. Das ist zwar kurzfristig schlecht für die deutsche Exportindustrie – weshalb es so große Widerstände dagegen gibt – dafür langfristig gut für alle Menschen in Deutschland und Europa.




Fußnoten:
1
“At this point the European imbalance problem is a German problem, caused by Germany’s persistent failure to have wage and price increases in line with what the euro requires. This German undervaluation is in turn exporting deflation to the rest of Europe. By contrast, France, Spain, and even Italy have been playing by the rules.”

Paul Krugman: “The European Outlier,” The Conscience of a Liberal, NY Times Blog, 30. November 2013

2
“What is a problem, however, is that Germany has effectively chosen to rely on foreign rather than domestic demand to ensure full employment at home, as shown in its extraordinarily large and persistent trade surplus, currently almost 7.5 percent of the country's GDP. Within a fixed-exchange-rate system like the euro currency area, such persistent imbalances are unhealthy … Importantly, Germany's large trade surplus puts all the burden of adjustment on countries with trade deficits, who must undergo painful deflation of wages and other costs to become more competitive. Germany could help restore balance within the euro zone … by increasing spending at home, through measures like increasing investment in infrastructure [and] pushing for wage increases for German workers”

Ben Bernanke: “Greece and Europe: Is Europe holding up its end of the bargain?” Ben Bernanke’s Blog, 17. Juli 2015, brookings.edu

3
“German inflation, which was below the rest of the Eurozone, will have to be above inflation in the rest of the Eurozone for some time. These are the rules of the game for a monetary union. 
  
As Germany is the outlier, this is a problem of Germany’s making. … A price it should pay for undercutting its neighbours is to experience a period of above ECB target inflation (e.g. 3% CPI inflation, which probably means nominal wage increases of something between 4% and 5%). If that is not going to happen, Germany should stimulate its economy to ensure it does.”

Simon Wren-Lewis: “Can a country be too competitive?” Mainly Macro (blog), 13. September 2013.

4
Heiner Flassbeck: “Eine heftige und grundsätzliche Euro-Diskussion im August – weniger wichtig, aber doch erwähnenswert,” Flassbeck-economics (blog), 3. September 2015

5
“it neglects the role of Germany, by far the largest member state, and its contribution to the imbalances in the years preceding the Crisis. … For the ideal functioning of the EZ, unit labour costs of each member state should increase in line with the inflation target of the ECB. This would lead to national inflation rates close to the ECB target rate. Compared to this benchmark rate … wages in the German economy were almost 20% too low in 2008”

Peter Bofinger: “German wage moderation and the EZ Crisis,” VoxEU, 30. November 2015


Beitrag ursprünglich veröffentlicht auf vwl-verstehen.de.tl im Oktober 2015; erweitert um das Zitat Peter Bofingers vom November 2015