Samstag, 19. Dezember 2015

Die Eurokrise verstehen und beenden

“Mittlerweile ist das europäische Ungleichgewichts-Problem ein deutsches Problem, verursacht durch Deutschlands andauerndes Versagen, Lohn- und Preissteigerungen zu haben, die im Einklang damit sind, was der Euro verlangt. Diese deutsche Unterbewertung exportiert wiederum Deflation in den Rest Europas. Im Gegensatz dazu haben sich Frankreich, Spanien und sogar Italien an die Regeln gehalten.” 1

Paul Krugman, Nobelpreisträger der Ökonomie



“Was jedoch ein Problem ist, ist dass Deutschland effektiv beschlossen hat, sich auf ausländische, anstatt auf inländische Nachfrage, zu verlassen, um Vollbeschäftigung im Inland zu sichern, wie der außerordentlich hohe und anhaltende Handelsüberschuss von derzeit fast 7,5 % des deutschen BIP zeigt. In einem System fester Wechselkurse wie der Euro-Währungsunion sind solche andauernde Ungleichgewichte schädlich. … Wichtig ist, dass Deutschlands Handelsüberschuss die ganze Last der Anpassung den Ländern mit Handelsdefiziten aufbürdet, die eine schmerzvolle Deflation der Löhne und
anderer Kosten durchmachen müssen, um wettbewerbsfähiger zu werden. Deutschland könnte helfen, ein Gleichgewicht in der Eurozone wiederherzustellen … durch höhere Ausgaben im Inland, etwa dadurch, die Investitionen in Infrastruktur zu erhöhen [und] durch Fördern von Lohnerhöhungen für deutsche Arbeitnehmer.” 2

Ben Bernanke, Chef der US-Notenbank, 2008–2014



“Die deutsche Inflation, die unterhalb dem Rest der Eurozone war, wird für einige Zeit über dem Rest der Eurozone sein müssen. Das sind die Spielregeln für eine Währungsunion.
Da Deutschland der Ausreißer ist, handelt es sich um ein von Deutschland verursachtes Problem. … Einen Preis, den es dafür bezahlen sollte, seine Nachbarn zu unterbieten, ist, eine Zeit mit einer Inflation oberhalb des EZB-Ziels (z.B. 3% Verbraucherpreis-Inflation, was wahrscheinlich nominale Lohnerhöhungen von etwa 4 bis 5 % bedeutet). Wenn das nicht von selbst passiert, sollte Deutschland seine Wirtschaft anregen, um sicherzustellen, dass es passiert.” 3

Simon Wren-Lewis, Professor für Ökonomie an der Oxford University



“Hätte Deutschland nicht so eklatant versagt, hätte die Währungsunion durchaus funktionieren können, weil bei den meisten Ländern der Wille da war, sich an das Inflationsziel von etwa zwei Prozent anzupassen. Hätte man die Bedeutung dieses Ziels von Anfang an verstanden, hätte man auch frühzeitig eingreifen können, um das Schlimmste zu verhindern.

Fast alle Probleme in Europa ließen sich lösen, weil der Merkantilismus in erster Linie ein deutsches Phänomen ist” 4

Heiner Flassbeck, Chef-Ökonom der UN-Organisation für Handel und Entwicklung, 2003–2012



“Es wird dabei die Rolle Deutschlands, des mit Abstand größten Mitgliedstaats, und sein Beitrag zu den Ungleichgewichten in den Jahren vor der Krise vernachlässigt. … Für ein optimales Funktionieren der Eurozone sollten die Lohnstückkosten jedes Mitgliedstaats im Einklang mit der Inflationsrate der EZB steigen. Dies würde zu nationalen Inflationsraten nahe der Zielrate der EZB führen. Gemessen an diesem Maßstab … waren die Löhne der deutschen Volkswirtschaft im Jahr 2008 fast 20 % zu niedrig.” 5

Peter Bofinger, Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung



Konsumenten deutscher Medien haben mit Sicherheit Schwierigkeiten, diese Aussagen der angesehensten Ökonomen der Welt zu verstehen.

Doch keine Angst – man braucht dafür keinen Doktortitel. Die Schlussfolgerungen ergeben sich aus ein paar simplen ökonomischen Zusammenhängen. Das Problem ist nur, dass diese in den deutschen Medien größtenteils verschwiegen bzw. falsch dargestellt werden.

Dieser Beitrag erklärt die Zusammenhänge und macht die Eurokrise für jeden klar verständlich.



Die Eurokrise verstehen und beenden

Bereits in der Zeit vor der Einführung des Euro – mit unterschiedlichen Währungen in Europa – war die Wirtschaftspolitik der verschiedenen Länder in Europa weitgehend unabhängig voneinander und damit sehr heterogen. Auch damals hatte beispielsweise Italien eine geringere Produktivität als Deutschland und Griechenland ein ineffizientes Steuersystem. Dennoch gab es damals keine großen Probleme im Handel zwischen den Staaten. Der Grund dafür war ein Ausgleichsmechanismus, der mittelfristig Ungleichgewichte beseitigte: eine Anpassung des Wechselkurses.

Man nehme eine Situation an, in der kein Ungleichgewicht bestand. Jedes Land exportierte etwa so viel, wie es importierte. Kein Land häufte übermäßig Schulden bzw. Forderungen gegen ein anderes Land an.

Es kam nun des Öfteren vor, dass beispielsweise Italien über einige Jahre hinweg eine relativ expansive Wirtschaftspolitik fuhr – Deutschland hingegen eine vergleichsweise restriktive Politik. (Man vernachlässige zur Einfachheit die anderen Länder.) Dadurch hatte Italien eine höhere Inflation als Deutschland. (Inflation ist der jährliche Anstieg des „Preisniveaus“, also der durchschnittlichen Preise in einem Land) Das bedeutete, dass italienische Produkte – verglichen mit deutschen – dann teurer waren als vorher. Die Folge war, dass Italiener anfingen auf deutsche Produkte zu wechseln und Deutsche statt italienischer Importe vermehrt heimische Produkte kauften.

Die italienische Nachfrage nach Gütern war zu hoch – höher als das Angebot an italienischen Gütern. Die deutsche Nachfrage nach Gütern war zu gering – relativ zum deutschen Güterangebot. Italien hatte ein Exportdefizit (mehr Importe als Exporte), Deutschland den entsprechenden Überschuss (mehr Exporte als Importe). Italien wurde zum Schuldner, Deutschland baute Forderungen auf.

Dieses Ungleichgewicht ließ sich einfach beheben, da jedes Land seine eigene Währung hatte und man den Wechselkurs zwischen den Währungen ändern konnte. Die italienische Währung (Lira) musste abwerten (eine Lira wurde dann weniger DM wert). Die deutsche Währung (DM) musste aufwerten (für eine DM bekam man dann mehr Lire).

Die Folge war, dass deutsche Güter – im Vergleich zu italienischen – wieder teurer wurden. Die Italiener bekamen nämlich für eine Lira weniger DM, sie mussten also mehr Lire für ein deutsches Produkt bezahlen. Italienische Produkte wurden entsprechend (relativ) billiger.

Das führte dazu, dass Italiener wieder zurück auf italienische Güter wechselten und Deutsche wieder mehr Importe aus Italien nachfragten. Jedes Land exportierte dann wieder ungefähr so viel, wie es importierte. Das Ungleichgewicht war behoben.

Nun hat man das System flexibler Wechselkurse und damit den Anpassungsmechanismus im Jahr 1999 aufgegeben und stattdessen eine Einheitswährung eingeführt: den Euro. Jedes teilnehmende Land hat seitdem einen unveränderlichen Wechselkurs von eins zu eins mit jedem anderen Land der Währungsunion. Man bekommt z.B. für einen deutschen Euro immer genau einen italienischen Euro. Eine Anpassung des Wechselkurses ist seitdem nicht mehr möglich. 

Weise Politiker hätten versucht, einen anderen Mechanismus zu installieren, der ohne die Möglichkeit von Auf- und Abwertungen ein Auseinanderlaufen der Preisniveaus verhindert – und damit Ungleichgewichten vorbeugt. Das ist leider nicht geschehen.

Stattdessen hat die deutsche Politik (bewusst oder unbewusst) eine andere Strategie verfolgt: Den Wegfall des Ausgleichmechanismus nutzen, um ein Ungleichgewicht zu erzeugen, von dem Deutschland auf Kosten der anderen profitiert.

Durch extrem restriktive Wirtschaftspolitik (Stichwort Agenda 2010) wurde die deutsche Güternachfrage stark gebremst und damit die Inflation deutlich unter der durchschnittlichen Inflation der Eurozone gehalten. Deutsche Produkte wurden Jahr für Jahr billiger – relativ zu Produkten aus dem Rest der Eurozone. Das führte dazu, dass das deutsche Preisniveau mittlerweile deutlich unter dem Rest der Eurozone liegt.

Deutschland exportiert mehr als es importiert, andere Länder importieren mehr als sie exportieren.

Spätestens in der Folge der Finanzkrise von 2008, als dieses Ungleichgewicht offensichtlich wurde, hätte man eine gemeinsame Lösung zur Behebung der Krise suchen müssen. Die naheliegende Lösung wäre gewesen, durch eine aktivere Wirtschaftspolitik in Deutschland für einige Zeit eine höhere Inflation zu erlauben, während die Defizitländer durch restriktivere Maßnahmen ihre Inflation für einige Zeit niedriger halten. Das hätte die relativen Preisniveaus wieder angeglichen und das Ungleichgewicht behoben – genau das, was eine Aufwertung der DM bewirkt hätte.

Man versuchte jedoch einen anderen Weg: Austerität in den Defizitländern ohne Anpassung in Deutschland. Zu Beginn dachten nämlich viele, dass eine relative Preisniveausenkung in den Defizitländern durch strikte Austerität ohne einen großen Einbruch der Wirtschaft zu bewerkstelligen sei. Mittlerweile ist klar, dass das nicht geht.

Das beste Beispiel ist Griechenland. Die Austeritätspolitik, die Griechenland diktiert wurde, ließ – zusammen mit der Finanzkrise – das griechische BIP um 25% einbrechen und die Arbeitslosigkeit explodieren.

Zwar nähert sich Griechenland durch die austeritätsbedingte Deflation (sinkende Preise) dem deutschen Preisniveau an, jedoch sind die sozialen Folgen nicht so lange zumutbar bis Griechenland das deutsche Preisniveau erreicht hat. Es wäre daher an der Zeit, dass Deutschland eine etwas expansivere Politik fährt, um Griechenland und den anderen Krisenländern mit seinem Preisniveau entgegen zu kommen. Eine etwas höhere Inflation ist nämlich – im Gegensatz zu Deflation – nicht so schädlich für eine Volkswirtschaft und geht typischerweise mit hohem Wirtschaftswachstum und niedriger Arbeitslosigkeit einher.

Jedoch streiten die verantwortlichen Politiker bis heute jegliche Mitschuld Deutschlands an dem Ungleichgewicht ab und weigern sich dagegen, das deutsche Preisniveau anzupassen. Es wird bestritten, dass der deutsche Exportüberschuss ein Problem ist, weil nicht verstanden wird, dass ein Überschuss in Deutschland ein Defizit anderswo bedeutet. 

Richtig ist jedoch, dass man ein Defizit nicht abbauen kann, wenn die Handelspartner ihren Überschuss nicht verringern wollen. Es ist daher unsinnig, von den Defizitländern zu verlangen, ihre Defizite abzubauen, gleichzeitig aber seinen Überschuss zu verteidigen.

Man zwingt also – entgegen jeglicher Logik – die Defizitländer weiter Austeritätsprogramme umzusetzen und den unsinnigen Kampf um ein (relativ!) niedriges Preisniveau weiter zu betreiben.

Die EZB – deren Aufgabe es ist, für eine durchschnittliche Inflation von nahe 2% zu sorgen – kann dem Kampf der Länder um möglichst niedrige Inflation (bzw. möglichst hohe Deflation) mittlerweile nichts mehr entgegen setzten, da sie mit einem Leitzins von de facto Null am Limit ihrer geldpolitischen Möglichkeiten angelangt ist. In ihrem verzweifelten Kampf gegen Deflation begann sie dieses Jahr ein „Quantitative Easing“-Programm, dessen beschränkte expansive Wirkung jedoch mit erheblichen Risiken verbunden ist.

Die Krisenländer müssen im Übrigen hoffen, dass Deutschland nicht irgendwann selbst auf Deflationskurs geht, um sein (im Vergleich zu den anderen) niedriges Preisniveau und damit seine Exportmärkte zu verteidigen. In diesem Fall könnten die Defizitländer ewig Austerität und Deflation betreiben und würden Deutschland trotzdem nie einholen.

Dass das Ungleichgewicht jedoch nicht ewig aufrecht zu erhalten ist, sollte jedem klar sein. Wenn die Preisniveaus nicht angepasst werden, wird früher oder später der Euro zerbrechen.

Der große Verlierer wäre dann aus zwei Gründen Deutschland selbst.

Zum ersten müsste Deutschland einen erheblichen Teil seiner Auslandsforderungen abschreiben, da die Schuldner mit einer neuen Währung niemals die auf Euro lautenden Schulden bedienen könnten. Die deutschen Nettoexporte, die von deutschen Arbeitnehmern zu unverhältnismäßig niedrigen Löhnen produziert wurden, würden dann nie bezahlt werden. Das würde erhebliche Lasten für den deutschen Staat bedeuten, auf den in den kommenden Jahrzehnten ohnehin große finanzielle Schwierigkeiten durch die demographische Entwicklung zukommen. (Die Bankenlobby hat erreicht, dass die Staaten den privaten Banken ihre fragwürdigen Forderungen abkaufen – deshalb haftet nun die Gemeinschaft für Zahlungsausfälle.)

Zweitens verliert Deutschland an dem Tag, an dem es eine Währung mit gleichgewichtigem Wechselkurs einführt alle Exportmärkte, die auf dem derzeit zu geringen Preisniveau basieren. Der Exportsektor würde zusammenbrechen und die Arbeitslosigkeit würde quasi über Nacht dramatisch ansteigen. Das hätte ebenfalls erhebliche negative Konsequenzen.

Es wird deshalb Zeit, dass die Bundesregierung eine expansivere Wirtschaftspolitik betreibt. Der Mindestlohn von €8,50 reicht bei weitem nicht aus. Das ist zwar kurzfristig schlecht für die deutsche Exportindustrie – weshalb es so große Widerstände dagegen gibt – dafür langfristig gut für alle Menschen in Deutschland und Europa.




Fußnoten:
1
“At this point the European imbalance problem is a German problem, caused by Germany’s persistent failure to have wage and price increases in line with what the euro requires. This German undervaluation is in turn exporting deflation to the rest of Europe. By contrast, France, Spain, and even Italy have been playing by the rules.”

Paul Krugman: “The European Outlier,” The Conscience of a Liberal, NY Times Blog, 30. November 2013

2
“What is a problem, however, is that Germany has effectively chosen to rely on foreign rather than domestic demand to ensure full employment at home, as shown in its extraordinarily large and persistent trade surplus, currently almost 7.5 percent of the country's GDP. Within a fixed-exchange-rate system like the euro currency area, such persistent imbalances are unhealthy … Importantly, Germany's large trade surplus puts all the burden of adjustment on countries with trade deficits, who must undergo painful deflation of wages and other costs to become more competitive. Germany could help restore balance within the euro zone … by increasing spending at home, through measures like increasing investment in infrastructure [and] pushing for wage increases for German workers”

Ben Bernanke: “Greece and Europe: Is Europe holding up its end of the bargain?” Ben Bernanke’s Blog, 17. Juli 2015, brookings.edu

3
“German inflation, which was below the rest of the Eurozone, will have to be above inflation in the rest of the Eurozone for some time. These are the rules of the game for a monetary union. 
  
As Germany is the outlier, this is a problem of Germany’s making. … A price it should pay for undercutting its neighbours is to experience a period of above ECB target inflation (e.g. 3% CPI inflation, which probably means nominal wage increases of something between 4% and 5%). If that is not going to happen, Germany should stimulate its economy to ensure it does.”

Simon Wren-Lewis: “Can a country be too competitive?” Mainly Macro (blog), 13. September 2013.

4
Heiner Flassbeck: “Eine heftige und grundsätzliche Euro-Diskussion im August – weniger wichtig, aber doch erwähnenswert,” Flassbeck-economics (blog), 3. September 2015

5
“it neglects the role of Germany, by far the largest member state, and its contribution to the imbalances in the years preceding the Crisis. … For the ideal functioning of the EZ, unit labour costs of each member state should increase in line with the inflation target of the ECB. This would lead to national inflation rates close to the ECB target rate. Compared to this benchmark rate … wages in the German economy were almost 20% too low in 2008”

Peter Bofinger: “German wage moderation and the EZ Crisis,” VoxEU, 30. November 2015


Beitrag ursprünglich veröffentlicht auf vwl-verstehen.de.tl im Oktober 2015; erweitert um das Zitat Peter Bofingers vom November 2015

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