Donnerstag, 31. Dezember 2015

Griechenland im Jahresrückblick


Die Vorgeschichte
Ab dem Jahr 2010 bekommt Griechenland Kredite von der sogenannten „Troika“ (EU-Kommission, EZB und IWF). Die Vertreter der Troika denken damals, dass ein strikter Sparkurs das Land nach dem Einbruch durch die Finanzkrise wieder wirtschaftlich auf die Beine bringt. Deshalb knüpfen sie die Gewährung der Kredite an die Bedingung, dass ein striktes Sparprogramm durchgesetzt wird.

Der IWF (dem hohe Kompetenz in Wirtschaftsfragen zugesprochen wird) prognostiziert im Jahr 2010, dass mit der Umsetzung des Sparprogramms das griechische BIP im Jahr 2011 zwar leicht sinken wird (um 1 %), schon 2012 jedoch wieder wachsen wird und dass die Arbeitslosigkeit im Jahr 2012 mit knapp 15 % ihren Höchststand erreichen wird.

Die Ökonomen des IWF übersehen jedoch, dass ein Sparkurs ohne Zinssenkungen der Zentralbank nicht zu einem Aufschwung führen kann – sondern die Krise nur verschärft.

Deshalb geht das griechische BIP im Jahr 2011 nicht um 1 % zurück, sondern um 9 % (!). Im Jahr 2012 beträgt das Wachstum nicht +1 %, wie prognostiziert, sondern die Wirtschaft bricht um weitere 7 % ein. Die Arbeitslosigkeit steigt bis 2013 auf 27 %. Bis Ende 2014 geht die Wirtschaftsleistung insgesamt um knapp ein Viertel zurück, die Arbeitslosigkeit verbleibt auf dem hohen Niveau, die Jungendarbeitslosigkeit steigt auf Werte jenseits der 60 % und die Anzahl der Selbstmorde steigt stark an.

Das Experiment, Griechenland durch einen Sparkurs zu heilen, ist auf allen Linien gescheitert. Für jeden, der nicht nur deutsche Medien verfolgt, ist das offensichtlich.


Die folgende Übersicht stellt die Situation auf dem Kreditmarkt am Ende des Jahres 2014 dar:
Die griechische Wirtschaft finanziert sich teilweise auf den Finanzmärkten, hauptsächlich jedoch durch Kredite der Troika, die an die Einhaltung des Sparkurses gebunden sind. Eine zusätzliche Finanzierungsquelle ist der übliche Weg durch das griechische Bankensystem, welches wiederum Refinanzierungs-kredite von der EZB erhält (mit griechischen Staatsanleihen als Sicherheit).


Das Jahr 2015

25. Januar – Syriza gewinnt Parlamentswahl

Die Folgen der Sparpolitik und die Verarmung der Bevölkerung führen zum Wahlsieg der linken Partei Syriza, die verspricht, den radikalen Sparkurs zu beenden. Am Tag darauf wird Syriza-Chef Tsipras zum neuen Ministerpräsident ernannt und verspricht die Auflagen für die Kredite neu zu verhandeln.

Die Troika sieht dadurch die Bedingungen für die Kredite nicht mehr erfüllt und stoppt das Kreditprogramm. Die Märkte werden nervös und stoppen ebenfalls ihre Kredite an Griechenland. Es bleibt die übliche Finanzierung durch den Bankensektor, um die Wirtschaft mit Liquidität zu versorgen.


4. Februar – EZB verschärft Kreditbedingungen

Kurz darauf beschließt die EZB griechische Staatsanleihen zukünftig nicht mehr als Sicherheit für Refinanzierungskredite zu akzeptieren. Es bleiben die sogenannten „ELA-Kredite“ der EZB. Das sind Notkredite, die von der jeweiligen Zentralbank gewährt werden, um den Kollaps des Bankensystems eines Landes zu verhindern.

Es vergeht nun einige Zeit mit Verhandlungen zwischen der Troika – angeführt von der deutschen Bundesregierung – und der griechischen Regierung; ohne Erfolg. Die Troika gibt kein Stück nach und bietet Kredite nur gegen harte Sparauflagen an. Tsipras hatte jedoch vor der Wahl versprochen, den strikten Sparkurs zu beenden und akzeptiert deshalb nicht.


26. Juni – Tsipras kündigt Referendum an

Kurz bevor eine Rate des IWF fällig wird, erklärt Tsipras, ein Referendum über die Sparmaßnahmen abhalten zu wollen. Sollte Griechenland mit Ja stimmen, werde er dem Angebot der Troika zustimmen. Falls Griechenland mit Nein stimme, erhoffe er sich eine bessere Verhandlungsposition mit der Troika, die den demokratischen Willen eines Mitgliedslandes dann hoffentlich nicht ignoriert.


28. Juni – EZB stoppt ELA-Kredite

Führende EU-Politiker verurteilen Tsipras' Plan, das Volk zu befragen. Der Präsident der EU-Kommission sagt, er fühle sich durch die Ankündigung des Referendums verraten. Der Präsident des EU-Parlaments bezeichnet das Referendum als manipulativ. Der Chef der Eurogruppe sowie hohe Politiker der EU-Staaten drohen, dass Griechenland aus dem Euro geworfen wird, sollte das Volk mit Nein stimmen. Zusätzlich schneidet die EZB das griechische Bankensystem nun völlig von der Liquiditäts-versorgung ab, indem sie ab sofort keine zusätzlichen ELA-Notkredite mehr gewährt.


29. Juni – Banken werden geschlossen

Die griechische Regierung lässt sich jedoch nicht einschüchtern. Sie lässt alle Banken schließen und schränkt den Zahlungsverkehr stark ein. Griechische Bankkunden können daraufhin nur noch   60 € täglich abheben, damit das verbleibende Bargeld der Banken ausreicht bis das Referendum abgehalten ist und es eine Einigung mit der Troika gibt.


30. Juni – Griechenland zahlt IWF-Rate nicht

In der Konsequenz zahlt Griechenland auch die Rate des IWF-Kredits nicht zurück und ist damit offiziell im Zahlungsverzug.


5. Juli – Referendum

Das Referendum ist ein großer Erfolg für Tsipras und die griechische Regierung. Über 61 % der Wähler stimmen gegen den Sparkurs, nur 39 % dafür.

Die Troika ist vom Ergebnis des Referendums allerdings nicht beeindruckt und bietet nur ein noch strikteres Sparprogramm an – das Angebot von vor dem Referendum hat die Troika mittlerweile zurückgezogen.

Tage vergehen.

Griechenlands Banken verlieren mit jedem Tag an Liquidität, sind aber von der Liquiditätsversorgung der EZB abgeschnitten. Griechenlands Bankensektor wird also innerhalb kurzer Zeit kollabieren, wenn nichts geschieht.


13. Juli – Tsipras akzeptiert

Nach 17-stündigen Verhandlungen akzeptiert Tsipras schließlich das noch striktere Sparprogramm um den Zusammenbruch des Bankensektors zu verhindern. Mit Stimmen der Opposition passiert es zwei Tage später das Parlament.


20. August – Tsipras tritt zurück

Da ein Teil der Syriza-Abgeordneten die Kehrtwende des Ministerpräsidenten nicht mitträgt und Tsipras dadurch keine Mehrheit im Parlament mehr hat, tritt er zurück und macht den Weg für Neuwahlen frei.


20. September – Tsipras gewinnt Neuwahlen

Die Wahlbeteiligung geht aus Frust über die Ohnmacht der griechischen Regierung zurück. Dennoch wird Tsipras mit großer Mehrheit wiedergewählt.


4. Oktober – Wahlen in Portugal

Eine Gruppe linker Parteien gewinnt die Wahlen in Portugal. Die Regierungspartei, die einen Sparkurs verfolgt hatte, ist damit abgewählt. Der neue Regierungschef, der gewählt wurde um die Sparpolitik zu beenden, sagt nach den Wahlen trotzdem zu, die EU-Vorschriften bezüglich der Staatsfinanzen einzuhalten – vielleicht abgeschreckt vom Umgang der Troika mit Griechenland.


20. Dezember – Wahlen in Spanien

In Spanien verliert die konservative Regierungspartei, die den Sparkurs umgesetzt hatte, die absolute Mehrheit und erhält nur noch 29 % der Stimmen. Die neu gegründete Partei Podemos, deren Hauptziel ein Ende des harten Sparkurses ist, erhält aus dem Stand 20 % der Stimmen. Das Ergebnis reicht zwar vielleicht noch für eine Koalition der Sparkurs-Befürworter. Der zunehmende Widerstand gegen die Sparpolitik wird dennoch deutlich.


Die Rolle der EZB
Große Aufmerksamkeit verdient das Verhalten der EZB im Griechenland-Drama. Das Folgende Zitat aus dem August 2015 stammt von Benoît Cœuré, einem Mitglied des EZB-Direktoriums:

Bankenaufseher bei der EZB haben eine neue Prüfung der Qualität von Vermögenswerten sowie einen Stresstest für Griechenlands vier größte Banken begonnen. Diese Kreditinstitute waren adäquat kapitalisiert, sie operieren jedoch jetzt in einem extrem schwierigen wirtschaftlichen Umfeld und notleidende Kredite werden wahrscheinlich in den nächsten Jahren zunehmen. *

Er sagt also – in einem Interview, das auf der offiziellen Seite der EZB zu lesen ist – dass die griechischen Banken „adäquat kapitalisiert“ waren, nun jedoch große Probleme haben. Irgendetwas muss also passiert sein, das die Banken an den Rand des Bankrotts gebracht hat. Das einzige wichtige Ereignis, das die Banken betrifft und kurz zuvor stattgefunden hatte, war die Verweigerung der Notkredite durch die EZB.

Wer nun eins und eins zusammenzählt, kommt zu dem Schluss, dass die EZB aus politischem Kalkül das funktionierende, griechische Bankensystem destabilisiert hat und dadurch dem griechischen Bankensystem langfristig Schaden zugefügt hat – wirtschaftlich waren die Banken laut Cœuré schließlich in Ordnung.

So etwas ist der EZB natürlich nicht erlaubt! Wenn die griechischen Banken tatsächlich hinreichend Eigenkapital hatten, dann handelt es sich um einen klaren Machtmissbrauch der Troika. Die EZB darf nicht ihre Aufgabe als Zentralbank aller Euroländer – und damit als Zentralbank Griechenlands – vernachlässigen; erst recht nicht aus politischen Gründen.


Was lernen wir?
Das Jahr 2015 und die Griechenland-Krise war wichtig für die Zukunft Europas. Nicht weil Griechenland eine große Volkswirtschaft wäre und deshalb den Rest Europas wirtschaftlich gefährden könnte; sondern weil sich zum ersten mal ein Land der Eurozone gegen das Spardiktat der Troika – unter Führung von Merkel und Schäuble – aufgelehnt hat und man die Reaktionen sehen konnte.

Im Fall Griechenlands war es eine pro-europäische, linke Regierung, die ihren Wählern versprochen hatte, die harten Sparauflagen zu lockern, die das Land nachweislich in eine katastrophale Wirtschaftskrise gestürzt haben.

Die Antwort der Troika war eindeutig. Der demokratische Wille des griechischen Volks wurde unterdrückt und mit einer Destabilisierung des griechischen Bankensektors wurde Griechenland gezwungen, den Sparkurs in aller Härte fortzusetzen.

Dieses Vorgehen hat der Troika kurzfristig Erfolg gebracht: Griechenland ist zurück auf einem Sparkurs; auch Portugal und (vermutlich) Spanien setzen ihren Sparkurs nach den Wahlen weiter um.

Wenn die Troika diese Politik fortsetzt, lässt sie den Menschen in Europa allerdings keine andere Möglichkeit, die destruktiven Spardiktate zu beenden, als rechte, nationalistische Parteien zu wählen, die Europa den Mittelfinger zeigen und aus dem Euro austreten. Gerade die undemokratische und ggf. illegale Durchsetzung der Sparpolitik, die so vielen Menschen Not und Elend bringt, erzeugt Hass auf Europa und treibt die Menschen in die Hände von Anti-Europäern und Nationalisten. Wenn die europäischen Institutionen ihre Politik in den nächsten Jahren nicht ändern, werden rechte Bewegungen weiter erstarken.

Die rechte Gefahr birgt jedoch auch eine Chance: Vielen Regierungschefs der Eurozone müsste bald bewusst werden, dass sie ihren Job an rechtsextreme Kontrahenten verlieren können, wenn sie das deutsche Spardiktat weiter tolerieren. Hoffentlich lehnen sie sich dann gegen die von der Bundesregierung vorangetriebene europäische Sparpolitik auf. Dafür hätten sie seit diesem Jahr potentielle Verbündete in Griechenland und Portugal. Eine solche Allianz könnte Merkel und Schäuble in einen Diskurs zwingen und bewirken, dass die Bundesregierung ihre Wirtschaftspolitik fundamental ändert, was für die Lösung der Eurokrise extrem wichtig ist.

Große Hoffnungen für das Jahr 2016…


* “banking supervisors at the ECB have started a new asset quality review and stress test for Greece’s four major banks. Those credit institutions were adequately capitalised, but they are now operating in an extremely difficult economic environment, and non-performing loans are likely to increase in the next few years.” ECB: Interview of Benoît Cœuré, Member of the Executive Board of the ECB


Samstag, 19. Dezember 2015

Die Eurokrise verstehen und beenden

“Mittlerweile ist das europäische Ungleichgewichts-Problem ein deutsches Problem, verursacht durch Deutschlands andauerndes Versagen, Lohn- und Preissteigerungen zu haben, die im Einklang damit sind, was der Euro verlangt. Diese deutsche Unterbewertung exportiert wiederum Deflation in den Rest Europas. Im Gegensatz dazu haben sich Frankreich, Spanien und sogar Italien an die Regeln gehalten.” 1

Paul Krugman, Nobelpreisträger der Ökonomie



“Was jedoch ein Problem ist, ist dass Deutschland effektiv beschlossen hat, sich auf ausländische, anstatt auf inländische Nachfrage, zu verlassen, um Vollbeschäftigung im Inland zu sichern, wie der außerordentlich hohe und anhaltende Handelsüberschuss von derzeit fast 7,5 % des deutschen BIP zeigt. In einem System fester Wechselkurse wie der Euro-Währungsunion sind solche andauernde Ungleichgewichte schädlich. … Wichtig ist, dass Deutschlands Handelsüberschuss die ganze Last der Anpassung den Ländern mit Handelsdefiziten aufbürdet, die eine schmerzvolle Deflation der Löhne und
anderer Kosten durchmachen müssen, um wettbewerbsfähiger zu werden. Deutschland könnte helfen, ein Gleichgewicht in der Eurozone wiederherzustellen … durch höhere Ausgaben im Inland, etwa dadurch, die Investitionen in Infrastruktur zu erhöhen [und] durch Fördern von Lohnerhöhungen für deutsche Arbeitnehmer.” 2

Ben Bernanke, Chef der US-Notenbank, 2008–2014



“Die deutsche Inflation, die unterhalb dem Rest der Eurozone war, wird für einige Zeit über dem Rest der Eurozone sein müssen. Das sind die Spielregeln für eine Währungsunion.
Da Deutschland der Ausreißer ist, handelt es sich um ein von Deutschland verursachtes Problem. … Einen Preis, den es dafür bezahlen sollte, seine Nachbarn zu unterbieten, ist, eine Zeit mit einer Inflation oberhalb des EZB-Ziels (z.B. 3% Verbraucherpreis-Inflation, was wahrscheinlich nominale Lohnerhöhungen von etwa 4 bis 5 % bedeutet). Wenn das nicht von selbst passiert, sollte Deutschland seine Wirtschaft anregen, um sicherzustellen, dass es passiert.” 3

Simon Wren-Lewis, Professor für Ökonomie an der Oxford University



“Hätte Deutschland nicht so eklatant versagt, hätte die Währungsunion durchaus funktionieren können, weil bei den meisten Ländern der Wille da war, sich an das Inflationsziel von etwa zwei Prozent anzupassen. Hätte man die Bedeutung dieses Ziels von Anfang an verstanden, hätte man auch frühzeitig eingreifen können, um das Schlimmste zu verhindern.

Fast alle Probleme in Europa ließen sich lösen, weil der Merkantilismus in erster Linie ein deutsches Phänomen ist” 4

Heiner Flassbeck, Chef-Ökonom der UN-Organisation für Handel und Entwicklung, 2003–2012



“Es wird dabei die Rolle Deutschlands, des mit Abstand größten Mitgliedstaats, und sein Beitrag zu den Ungleichgewichten in den Jahren vor der Krise vernachlässigt. … Für ein optimales Funktionieren der Eurozone sollten die Lohnstückkosten jedes Mitgliedstaats im Einklang mit der Inflationsrate der EZB steigen. Dies würde zu nationalen Inflationsraten nahe der Zielrate der EZB führen. Gemessen an diesem Maßstab … waren die Löhne der deutschen Volkswirtschaft im Jahr 2008 fast 20 % zu niedrig.” 5

Peter Bofinger, Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung



Konsumenten deutscher Medien haben mit Sicherheit Schwierigkeiten, diese Aussagen der angesehensten Ökonomen der Welt zu verstehen.

Doch keine Angst – man braucht dafür keinen Doktortitel. Die Schlussfolgerungen ergeben sich aus ein paar simplen ökonomischen Zusammenhängen. Das Problem ist nur, dass diese in den deutschen Medien größtenteils verschwiegen bzw. falsch dargestellt werden.

Dieser Beitrag erklärt die Zusammenhänge und macht die Eurokrise für jeden klar verständlich.



Die Eurokrise verstehen und beenden

Bereits in der Zeit vor der Einführung des Euro – mit unterschiedlichen Währungen in Europa – war die Wirtschaftspolitik der verschiedenen Länder in Europa weitgehend unabhängig voneinander und damit sehr heterogen. Auch damals hatte beispielsweise Italien eine geringere Produktivität als Deutschland und Griechenland ein ineffizientes Steuersystem. Dennoch gab es damals keine großen Probleme im Handel zwischen den Staaten. Der Grund dafür war ein Ausgleichsmechanismus, der mittelfristig Ungleichgewichte beseitigte: eine Anpassung des Wechselkurses.

Man nehme eine Situation an, in der kein Ungleichgewicht bestand. Jedes Land exportierte etwa so viel, wie es importierte. Kein Land häufte übermäßig Schulden bzw. Forderungen gegen ein anderes Land an.

Es kam nun des Öfteren vor, dass beispielsweise Italien über einige Jahre hinweg eine relativ expansive Wirtschaftspolitik fuhr – Deutschland hingegen eine vergleichsweise restriktive Politik. (Man vernachlässige zur Einfachheit die anderen Länder.) Dadurch hatte Italien eine höhere Inflation als Deutschland. (Inflation ist der jährliche Anstieg des „Preisniveaus“, also der durchschnittlichen Preise in einem Land) Das bedeutete, dass italienische Produkte – verglichen mit deutschen – dann teurer waren als vorher. Die Folge war, dass Italiener anfingen auf deutsche Produkte zu wechseln und Deutsche statt italienischer Importe vermehrt heimische Produkte kauften.

Die italienische Nachfrage nach Gütern war zu hoch – höher als das Angebot an italienischen Gütern. Die deutsche Nachfrage nach Gütern war zu gering – relativ zum deutschen Güterangebot. Italien hatte ein Exportdefizit (mehr Importe als Exporte), Deutschland den entsprechenden Überschuss (mehr Exporte als Importe). Italien wurde zum Schuldner, Deutschland baute Forderungen auf.

Dieses Ungleichgewicht ließ sich einfach beheben, da jedes Land seine eigene Währung hatte und man den Wechselkurs zwischen den Währungen ändern konnte. Die italienische Währung (Lira) musste abwerten (eine Lira wurde dann weniger DM wert). Die deutsche Währung (DM) musste aufwerten (für eine DM bekam man dann mehr Lire).

Die Folge war, dass deutsche Güter – im Vergleich zu italienischen – wieder teurer wurden. Die Italiener bekamen nämlich für eine Lira weniger DM, sie mussten also mehr Lire für ein deutsches Produkt bezahlen. Italienische Produkte wurden entsprechend (relativ) billiger.

Das führte dazu, dass Italiener wieder zurück auf italienische Güter wechselten und Deutsche wieder mehr Importe aus Italien nachfragten. Jedes Land exportierte dann wieder ungefähr so viel, wie es importierte. Das Ungleichgewicht war behoben.

Nun hat man das System flexibler Wechselkurse und damit den Anpassungsmechanismus im Jahr 1999 aufgegeben und stattdessen eine Einheitswährung eingeführt: den Euro. Jedes teilnehmende Land hat seitdem einen unveränderlichen Wechselkurs von eins zu eins mit jedem anderen Land der Währungsunion. Man bekommt z.B. für einen deutschen Euro immer genau einen italienischen Euro. Eine Anpassung des Wechselkurses ist seitdem nicht mehr möglich. 

Weise Politiker hätten versucht, einen anderen Mechanismus zu installieren, der ohne die Möglichkeit von Auf- und Abwertungen ein Auseinanderlaufen der Preisniveaus verhindert – und damit Ungleichgewichten vorbeugt. Das ist leider nicht geschehen.

Stattdessen hat die deutsche Politik (bewusst oder unbewusst) eine andere Strategie verfolgt: Den Wegfall des Ausgleichmechanismus nutzen, um ein Ungleichgewicht zu erzeugen, von dem Deutschland auf Kosten der anderen profitiert.

Durch extrem restriktive Wirtschaftspolitik (Stichwort Agenda 2010) wurde die deutsche Güternachfrage stark gebremst und damit die Inflation deutlich unter der durchschnittlichen Inflation der Eurozone gehalten. Deutsche Produkte wurden Jahr für Jahr billiger – relativ zu Produkten aus dem Rest der Eurozone. Das führte dazu, dass das deutsche Preisniveau mittlerweile deutlich unter dem Rest der Eurozone liegt.

Deutschland exportiert mehr als es importiert, andere Länder importieren mehr als sie exportieren.

Spätestens in der Folge der Finanzkrise von 2008, als dieses Ungleichgewicht offensichtlich wurde, hätte man eine gemeinsame Lösung zur Behebung der Krise suchen müssen. Die naheliegende Lösung wäre gewesen, durch eine aktivere Wirtschaftspolitik in Deutschland für einige Zeit eine höhere Inflation zu erlauben, während die Defizitländer durch restriktivere Maßnahmen ihre Inflation für einige Zeit niedriger halten. Das hätte die relativen Preisniveaus wieder angeglichen und das Ungleichgewicht behoben – genau das, was eine Aufwertung der DM bewirkt hätte.

Man versuchte jedoch einen anderen Weg: Austerität in den Defizitländern ohne Anpassung in Deutschland. Zu Beginn dachten nämlich viele, dass eine relative Preisniveausenkung in den Defizitländern durch strikte Austerität ohne einen großen Einbruch der Wirtschaft zu bewerkstelligen sei. Mittlerweile ist klar, dass das nicht geht.

Das beste Beispiel ist Griechenland. Die Austeritätspolitik, die Griechenland diktiert wurde, ließ – zusammen mit der Finanzkrise – das griechische BIP um 25% einbrechen und die Arbeitslosigkeit explodieren.

Zwar nähert sich Griechenland durch die austeritätsbedingte Deflation (sinkende Preise) dem deutschen Preisniveau an, jedoch sind die sozialen Folgen nicht so lange zumutbar bis Griechenland das deutsche Preisniveau erreicht hat. Es wäre daher an der Zeit, dass Deutschland eine etwas expansivere Politik fährt, um Griechenland und den anderen Krisenländern mit seinem Preisniveau entgegen zu kommen. Eine etwas höhere Inflation ist nämlich – im Gegensatz zu Deflation – nicht so schädlich für eine Volkswirtschaft und geht typischerweise mit hohem Wirtschaftswachstum und niedriger Arbeitslosigkeit einher.

Jedoch streiten die verantwortlichen Politiker bis heute jegliche Mitschuld Deutschlands an dem Ungleichgewicht ab und weigern sich dagegen, das deutsche Preisniveau anzupassen. Es wird bestritten, dass der deutsche Exportüberschuss ein Problem ist, weil nicht verstanden wird, dass ein Überschuss in Deutschland ein Defizit anderswo bedeutet. 

Richtig ist jedoch, dass man ein Defizit nicht abbauen kann, wenn die Handelspartner ihren Überschuss nicht verringern wollen. Es ist daher unsinnig, von den Defizitländern zu verlangen, ihre Defizite abzubauen, gleichzeitig aber seinen Überschuss zu verteidigen.

Man zwingt also – entgegen jeglicher Logik – die Defizitländer weiter Austeritätsprogramme umzusetzen und den unsinnigen Kampf um ein (relativ!) niedriges Preisniveau weiter zu betreiben.

Die EZB – deren Aufgabe es ist, für eine durchschnittliche Inflation von nahe 2% zu sorgen – kann dem Kampf der Länder um möglichst niedrige Inflation (bzw. möglichst hohe Deflation) mittlerweile nichts mehr entgegen setzten, da sie mit einem Leitzins von de facto Null am Limit ihrer geldpolitischen Möglichkeiten angelangt ist. In ihrem verzweifelten Kampf gegen Deflation begann sie dieses Jahr ein „Quantitative Easing“-Programm, dessen beschränkte expansive Wirkung jedoch mit erheblichen Risiken verbunden ist.

Die Krisenländer müssen im Übrigen hoffen, dass Deutschland nicht irgendwann selbst auf Deflationskurs geht, um sein (im Vergleich zu den anderen) niedriges Preisniveau und damit seine Exportmärkte zu verteidigen. In diesem Fall könnten die Defizitländer ewig Austerität und Deflation betreiben und würden Deutschland trotzdem nie einholen.

Dass das Ungleichgewicht jedoch nicht ewig aufrecht zu erhalten ist, sollte jedem klar sein. Wenn die Preisniveaus nicht angepasst werden, wird früher oder später der Euro zerbrechen.

Der große Verlierer wäre dann aus zwei Gründen Deutschland selbst.

Zum ersten müsste Deutschland einen erheblichen Teil seiner Auslandsforderungen abschreiben, da die Schuldner mit einer neuen Währung niemals die auf Euro lautenden Schulden bedienen könnten. Die deutschen Nettoexporte, die von deutschen Arbeitnehmern zu unverhältnismäßig niedrigen Löhnen produziert wurden, würden dann nie bezahlt werden. Das würde erhebliche Lasten für den deutschen Staat bedeuten, auf den in den kommenden Jahrzehnten ohnehin große finanzielle Schwierigkeiten durch die demographische Entwicklung zukommen. (Die Bankenlobby hat erreicht, dass die Staaten den privaten Banken ihre fragwürdigen Forderungen abkaufen – deshalb haftet nun die Gemeinschaft für Zahlungsausfälle.)

Zweitens verliert Deutschland an dem Tag, an dem es eine Währung mit gleichgewichtigem Wechselkurs einführt alle Exportmärkte, die auf dem derzeit zu geringen Preisniveau basieren. Der Exportsektor würde zusammenbrechen und die Arbeitslosigkeit würde quasi über Nacht dramatisch ansteigen. Das hätte ebenfalls erhebliche negative Konsequenzen.

Es wird deshalb Zeit, dass die Bundesregierung eine expansivere Wirtschaftspolitik betreibt. Der Mindestlohn von €8,50 reicht bei weitem nicht aus. Das ist zwar kurzfristig schlecht für die deutsche Exportindustrie – weshalb es so große Widerstände dagegen gibt – dafür langfristig gut für alle Menschen in Deutschland und Europa.




Fußnoten:
1
“At this point the European imbalance problem is a German problem, caused by Germany’s persistent failure to have wage and price increases in line with what the euro requires. This German undervaluation is in turn exporting deflation to the rest of Europe. By contrast, France, Spain, and even Italy have been playing by the rules.”

Paul Krugman: “The European Outlier,” The Conscience of a Liberal, NY Times Blog, 30. November 2013

2
“What is a problem, however, is that Germany has effectively chosen to rely on foreign rather than domestic demand to ensure full employment at home, as shown in its extraordinarily large and persistent trade surplus, currently almost 7.5 percent of the country's GDP. Within a fixed-exchange-rate system like the euro currency area, such persistent imbalances are unhealthy … Importantly, Germany's large trade surplus puts all the burden of adjustment on countries with trade deficits, who must undergo painful deflation of wages and other costs to become more competitive. Germany could help restore balance within the euro zone … by increasing spending at home, through measures like increasing investment in infrastructure [and] pushing for wage increases for German workers”

Ben Bernanke: “Greece and Europe: Is Europe holding up its end of the bargain?” Ben Bernanke’s Blog, 17. Juli 2015, brookings.edu

3
“German inflation, which was below the rest of the Eurozone, will have to be above inflation in the rest of the Eurozone for some time. These are the rules of the game for a monetary union. 
  
As Germany is the outlier, this is a problem of Germany’s making. … A price it should pay for undercutting its neighbours is to experience a period of above ECB target inflation (e.g. 3% CPI inflation, which probably means nominal wage increases of something between 4% and 5%). If that is not going to happen, Germany should stimulate its economy to ensure it does.”

Simon Wren-Lewis: “Can a country be too competitive?” Mainly Macro (blog), 13. September 2013.

4
Heiner Flassbeck: “Eine heftige und grundsätzliche Euro-Diskussion im August – weniger wichtig, aber doch erwähnenswert,” Flassbeck-economics (blog), 3. September 2015

5
“it neglects the role of Germany, by far the largest member state, and its contribution to the imbalances in the years preceding the Crisis. … For the ideal functioning of the EZ, unit labour costs of each member state should increase in line with the inflation target of the ECB. This would lead to national inflation rates close to the ECB target rate. Compared to this benchmark rate … wages in the German economy were almost 20% too low in 2008”

Peter Bofinger: “German wage moderation and the EZ Crisis,” VoxEU, 30. November 2015


Beitrag ursprünglich veröffentlicht auf vwl-verstehen.de.tl im Oktober 2015; erweitert um das Zitat Peter Bofingers vom November 2015

Leser manipulieren für Dummies


Wie man Leser mit einfachen Methoden dazu bringen kann, eine bestimmte Meinung zu vertreten

… erklärt anhand eines Artikels der FAZ.

Ziel war es, die von der Bundesregierung befürwortete Sparpolitik für Griechenland gegen Kritik aus aller Welt zu verteidigen – insbesondere die Ökonomen Paul Krugman und Joseph Stiglitz hatten die Sparpolitik kritisiert.


schwarz: Originaltext
blau in Klammern: Kommentare


Schelte von Ökonomen
Es ist ja nicht Washingtons Geld
In der Griechenland-Debatte prügeln Amerikas Ökonomen gnadenlos (mit einer brutalen Metapher beginnen, als wären die Ökonomen gewalttätig, um sie als böse darzustellen) auf die Deutschen (nicht „deutsche Bundesregierung“ schreiben; die (deutschen) Leser sollen sich angegriffen fühlen und die Ökonomen von vornherein als Gegner sehen) ein. Dafür gibt es kulturelle Gründe – und ganz praktische.

02.07.2015, von WINAND VON PETERSDORFF


© DPA Verständnis für Tsipras: Paul Krugman (rechts; hier bei einem Athen-Besuch im April)


Eine wirkungsmächtige Erzählung macht die Runde. Es ist die Erzählung von den Deutschen und ihren nordeuropäischen Spießgesellen. Sie haben, so geht die Narration, mit ihren Entscheidungen Griechenland in Elend und Tumult gestürzt. (die Argumentation der Ökonomen als unsinniges Märchen darstellen, in dem alle Deutschen verrückt sind…) Deutschlands Motive sind dabei durchaus vielschichtig. Sie wollen die unbotmäßige linksradikale Regierung wegputschen und nehmen dafür den Zusammenbruch der griechischen Volkswirtschaft in Kauf oder, in der verschärften Variante, sie beschleunigen ihn bewusst. Ferner leiden die Deutschen unter einer Obsession: Sie sind austeritätsversessen. Sparen ist die Tugend, der nicht nur die schwäbische Hausfrau zu folgen hat, sondern die ganz Welt.
(…und bei den Lesern das Gefühl wecken, man müsse sich gegen diese Behauptungen wehren; In Wahrheit kritisieren die Ökonomen natürlich nur die deutsche Regierung für ihre Position zur Austeritätspolitik – nicht alle Deutschen pauschal)

Damit aber noch nicht genug der psychologischen Defekte, die (hier fehlt ein „die“ – solche Fehler eigentlich vermeiden, damit der Artikel seriös wirkt) Deutschen durchs Leben tragen. Sie sind in selbstzerstörerischer Weise auf die Einhaltung von Regeln selbst dann fixiert, wenn daraus ein allgemeiner Ruin resultiert. Und schließlich ist da noch die bedenkliche Eigentümlichkeit, dass die Deutschen Kredit gerne mit „Schulden“ übersetzen, einem mit Schuld verwandten Wort. Die semantische Verwandtschaft gibt den schlagenden Hinweis auf den deutschen Nationalcharakter: Die Deutschen finden Schulden böse. (Jetzt wurden oft genug „die Deutschen“ im Zusammenhang mit negativen Eigenschaften erwähnt, um den Lesern zu vermitteln, dass die Argumentation der Ökonomen unmöglich wahr sein kann. Schließlich sind die Deutschen generell nicht so wie hier beschrieben)

Das Putsch-Motiv

Die Erzählung ist unbehaglich, aber sie zu ignorieren hilft gar nichts. Denn ausnehmend kluge Männer tragen sie weit in die Welt hinaus. Der kraftvollste Erzähler ist der mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Ökonom Paul Krugman, der für die große Zeitung New York Times Woche für Woche die einflussreichste Kolumne der Vereinigten Staaten verfasst. In einer älteren stand zum Beispiel der Satz: „Fast jeder, der die Entwicklung verfolgt, erkennt, dass Deutschlands Austeritäts-Obsession Europa an den Rand einer Katastrophe geführt hat – fast jeder, abgesehen von den Deutschen selbst.“ (ein Zitat auswählen, in dem es so klingt, als kritisiere Krugman tatsächlich die deutsche Bevölkerung – nicht die deutsche Regierung) In einer anderen Woche schreibt der Ökonom, dass Deutschland das Rezept für ein „Desaster in Zeitlupe“ geschrieben habe, weil sie (Freud’sche Tippfehler auch unbedingt vermeiden! Ist Deutschland auf einmal weiblich oder ist insgeheim die Bundesregierung bzw. Merkel gemeint?) auf Sparsamkeit beharrt. Über Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble sagte Krugman in einem Vortrag in Brüssel im April dieses Jahres, seine Position sei „niederschmetternd“. (für Krugman’s Aussagen immer Konjunktiv verwenden, um sie zweifelhaft wirken zu lassen…) Der Mann habe in fünf Jahren nichts dazugelernt. In einer ganz frischen Kolumne schreibt Krugman, dass Griechenlands Volkswirtschaft kollabiert sei wegen der Austeritäts-Maßnahmen. Griechenland sei dann mit einem „Friß oder stirb“- Sparpaket der Kreditgeber konfrontiert worden, das die verheerende Sparpolitik der letzten fünf Jahre fortgesetzt hätte. (…auch wenn es sich um Fakten handelt) „Dies war ein vermutlich mit Absicht so angelegtes Angebot, dass es Alexis Tsipras, der griechische Premierminister, nicht annehmen konnte, weil es seine politische Existenz vernichten würde. Die Absicht musste es sein, ihn aus dem Amt zu jagen, was wahrscheinlich passiert, wenn die Griechen die Troika genug fürchten, um mit „Ja“ zu stimmen.“

Hier taucht es auf, das Putsch-Motiv. Im Kern sagt Krugman, die Kreditgeber einschließlich des mächtigen Deutschland befördern den demokratisch legitimierten Regierungschef aus dem Amt, weil er die ökonomisch verheerenden Sparmaßnahmen nicht hinnehmen will.

Stiglitz: Es geht nicht um Geld, sondern um Macht

Joseph Stiglitz, ein anderer amerikanischer Nobelpreisträger der Ökonomie, kann seine Wut kaum verhehlen: (behaupten, die Meinung der Ökonomen beruhe auf Wut; nicht auf einer wissenschaftlichen Analyse) Die Hilfskredite hätten Griechenland gar nicht erreicht, sondern seien direkt an die privaten Kreditgeber, darunter deutsche Banken, gegangen. (auch bei Stiglitz’ Aussagen immer Konjunktiv verwenden – egal ob Meinung oder Fakt) Soviel zum Thema, man habe versucht Griechenland zu retten. Es gehe im Übrigen nicht um Geld, sondern um die Macht, den Griechen das Unakzeptierbare aufzuzwingen: Das beschränkt sich nicht auf Austeritätsprogramme, sondern meint eine Politik, die schon in so vielen Ländern Ungleichheit fördert und die Arbeitnehmer schwächt.
Und weiter geht es: Britische Kolumnisten bedeutender Zeitungen schreiben, man müsse Merkel stoppen, bevor sie Europa und Griechenland zerstöre oder sie machen aus dem Krugmanschen Putschisten einen Serientäter, der auch den braven Silvio Berlusconi in Italien niedergestreckt hat. Zurückhaltender und dafür deutlich pfiffiger formuliert Martin Wolf, der große Kolumnist der Financial Times, dass Schuldenerlasse etwas ganz normales seien, wovon ja Deutschland, das im 19. Jahrhundert Staatsbankrotte in Serie hingelegt hat, profitiert habe.

Mario Monti, der frühere Regierungschef Italiens und Amerikas Präsident Barack Obama haben gemeinsam über die Deutschen geseufzt. Darüber, dass Deutsche die Ökonomie als Teildisziplin der Moralwissenschaften ansähen. Darüber, dass Wachstum für sie eine Belohnung einer wertorientierten sparsamen Wirtschaft sei. Und darüber, dass Schulden für sie, die Deutschen, stets mit Schuld verbunden seien.

Warum entwickeln gerade Amerikaner Sympathie für Linksradikale? (Wenn halbwegs plausibel, für politische Gegner immer das Wort „radikal“ verwenden, da es negativ klingt – auch wenn deren Meinung gemäßigt ist)

In den Ausprägungen unterschiedlich wird die von angelsächsischen Federn nieder geschriebene Kritik von vielen Meinungsmachern (nützliches, abwertendes Wort, das man übrigens für jede Person verwenden kann, die irgendeine Meinung vertritt) und Ökonomen außerhalb Nordeuropas geteilt, vor allem die eine große These (die Meinung der Gegner immer als „These“ – oder eigentlich besser: „Erzählung“ – bezeichnen; die „richtige“ Meinung nie), die da lautet: Die von der Troika aus Europäischer Union, Internationalem Währungsfonds und der Europäischen Zentralbank auferlegte Austeritätspolitik sei hauptverantwortlich für die aktuelle Misere in Griechenland. (natürlich nicht erwähnen, dass die „These“ wissenschaftlich belegt ist) Diese Analyse allerdings ist in Deutschland nicht mehrheitsfähig, sie stößt, wie Krugman schon ganz richtig mutmaßte, in der Tat auf Unverständnis. (Hoffentlich merkt niemand, dass es keine absurde These sein kann, wenn sie von der überwältigenden Mehrheit der Ökonomen weltweit vertreten wird) Auch dass Tsipras ein zu Unrecht verunglimpfter Politiker sei, ist den Deutschen nur schwer nahezubringen.

Der (relativ unbedeutende aber gerade nützliche) amerikanische Ökonom Scott Sumner suchte Antworten auf die Frage, warum gerade seine Land(s)leute (philosophiert er über Ökonomen oder Bauern?) so viel Sympathie für die linksradikale griechische Regierung hegten. „Womöglich erklärt sich (die) Differenz aus der Tatsache, dass es nicht unser Geld ist, das auf dem Spiel steht, sondern das der Europäer.“ Amerika hätte ja durchaus die Möglichkeit, Griechenland mit Geld beizuspringen, was allerdings bisher unterblieb – sie sind nur indirekt über den Internationalen Währungsfonds mit relativ kleinen Summen beteiligt. (nicht erwähnen, dass Stiglitz ein scharfer Kritiker der US-Handelspolitik ist und u.a. in seinem Buch „Globalization and its discontents“ beschreibt, wie die USA ihre Handelspartner unfair behandeln und eine Veränderung fordert. Das würde unglaubwürdig machen, dass Stiglitz nur aus Wut und Nationalismus eine bestimmte Meinung vertritt)
Ein anderer Unterschied ist ziemlich offenkundig: Die Nordeuropäer inklusive der Deutschen nehmen Schulden ziemlich ernst. Das findet seinen Niederschlag in Gesetzen, die es bankrotten Selbständigen schwer machen, wieder auf die Füße zu kommen, wenn auch deutlich einfacher als früher. Da sind die Amerikaner, wie Sumner ausführt, dann doch entspannter. „In Amerika können Leute wie Donald Trump Pleite gehen, und danach neu anfangen, als sei nichts geschehen. Sie können sich sogar fürs Präsidentenamt bewerben.“ (egal, dass man sich auch in Deutschland nach einer Insolvenz als Bundeskanzler bzw. –präsident bewerben kann)
Sumners dritte Erklärung für die Unterschiede in der Betrachtungsweise der griechischen Misere deckt sich vermutlich dann wieder mit Krugmans Einschätzung: Amerikaner verstehen einfach mehr von Makroökonomik als die Europäer. (so tun, als gehe es beim Konflikt Krugman/Stiglitz vs. Schäuble/Merkel darum, ob Amerikaner oder Deutsche (bzw. Europäer) mehr von Wirtschaft verstehen – nicht Wirtschaftsnobelpreisträger oder Juristen bzw. Physiker, deren „Wirtschaftskompetenz“ auf Gesprächen mit Lobbyisten basiert) Große amerikanische Ökonomen, wenn auch nicht ganz so stimmgewaltig (Es ist eigentlich positiv, wenn sich jemand durch seine wissenschaftlichen Arbeiten eine derart gute Reputation erarbeitet hat, dass eine große Anzahl an Menschen ihm zuhört und auf seine Meinung zählt. Mit dem genialen Wort „stimmgewaltig“ kann man diese Errungenschaft einfach ins Negative umkehren) wie Krugman, sind allerdings Kenneth Rogoff und Jeffrey Sachs.


Wer nicht vertraut, der investiert nicht

Harvard-Mann Rogoff (besser nicht erwähnen, dass Rogoff dafür bekannt ist, eine Studie („Growth in a time of debt“) gefälscht zu haben, die zeigen sollte, dass hohe Staatsschulden schlecht für Wachstum sind – was übrigens auch die FAZ als ökonomisches Gesetz propagiert. In der Studie wurden jedoch Länder mit hohen Staatsschulden und hohem Wachstum einfach aus dem Datensatz entfernt) hat gerade zusammen mit dem Stanford-Kollegen James Bulow einen Aufsehen erregenden Artikel verfasst, der mit grimmiger Akribie die Zahlungen untersucht, die Griechenland in den letzten Jahren erreicht und verlassen haben. Das Ergebnis ist bemerkenswert: Griechenland war von 2010 bis Mitte 2014 Nettoempfänger von Geld der Troika. Das steht im krassen Gegensatz zu der verbreiteten Hypothese, dem Land sei ein von der Troika aufgelegtes Verderben bringendes Austeritätsprogramm auferlegt worden, mit Zweck das geliehene Geld einzutreiben. (Passagen wie diesen Absatz, der offensichtlich keinen Sinn ergibt, besser weglassen – jeder weiß, dass Griechenland Geld bekommen hat; und den beschriebenen Gegensatz gibt es nicht. Gut ist dennoch, die zu bekämpfende Meinung als Hypothese zu bezeichnen und Konjunktiv zu verwenden)

Rogoff sagt, die wahren Probleme des Landes folgen aus einem dramatischen Vertrauensverlust nicht nur der ausländischen Investoren, sondern der Griechen selbst. Sie haben seit 2010 dem heimischen Bankensystem mehr als 100 Milliarden Euro entzogen - ein enormer Betrag, der durch Geld der Europäischen Zentralbank ersetzt werden musste. Eine naheliegende Erklärung ist, dass die Griechen ihren politischen Institutionen nicht trauen oder sich selbst nicht trauen. Wer nicht vertraut, der investiert nicht. (Rogoffs Thesen – die mit der zu propagierenden Meinung übereinstimmen – nicht als solche kennzeichnen und ausnahmsweise keinen Konjunktiv verwenden, damit es so wirkt, als seien es unumstrittene Fakten)

Griechenland - ein Schwellenland?

Die Weltbank analysiert nach vielen Kriterien, wie reif und entwickelt Volkswirtschaften im globalen Vergleich sind. Im generellen Kriterium „Doing Business“ liegt Griechenland dabei auf Platz 61 direkt hinter Tunesien und weit hinter den anderen gefährdeten Euroländern. Beim Kriterium der Einhaltung und Durchsetzung von Verträgen liegt das Land auf Platz 155 dicht bei Malawi, beim Steuereintreiben sind die Solomon Inseln die Benchmark. In anderen Kriterien können die Griechen sich mit Tonga und Marokko messen. Die neue Erzählung vor diesem Hintergrund müsste lauten: Griechenland ist gar kein europäisches Industrieland. Es ist ein Schwellenland, in dem womöglich Sparen so wenig hilft wie das Gegenteil. Alle Versuche versanden, so lange das Rechtssystem und die Bürokratie nicht modern werden.
(Darauf wurde die ganze Zeit hingearbeitet; irgendwann muss man es tun: Man muss seine eigene These als die Wahrheit präsentieren, um damit die  Nobelpreisträger zu „widerlegen“ – auch wenn man nur ein Redakteur bei der FAZ ohne nennenswerte volkswirtschaftliche Kenntnisse ist und die These lautet: „Griechenland ist Europas unwürdig und es hilft eh alles nix – Sparen hin oder her“)

Was würde Krugman zu dieser Deutung sagen? (Er würde wahrscheinlich vor Lachen vom Stuhl fallen) Der berühmte Ökonom Jeffrey Sachs, ein Gegner der Sparprogramme für Griechenland, hat bei Krugman allerdings eine ganz andere Austeritätsversessenheit gefunden: Er habe vor Sparpolitik in England und den Vereinigten Staaten lauthals gewarnt, aber nie zu Kenntnis genommen, dass sich trotz der ganzen Austerität in diesen Ländern die wirtschaftlichen Daten, etwa die Arbeitslosigkeit, deutlich gebessert hätten. (Um Krugman zu disqualifizieren zur Not einfach die Fakten ins Gegenteil verkehren! Eigentlich zeigt der Vergleich USA-England-Europa: Die USA hatten weniger Austerität als Europa und eine bessere Performance. England ist irgendwo in der Mitte. Die logische Schlussfolgerung wäre, dass Austerität der wirtschaftlichen Entwicklung schadet – wie Krugman richtig feststellt. Griechenland, um das es eigentlich geht, in diesem Zusammenhang auf keinen Fall erwähnen, da dann der Widerspruch offensichtlich wird) Als ob die Empirie nicht in Krugmans Modell gepasst hätte. Auch Stiglitz bleibt nicht ungeschoren. Der Harvard-Entwicklungsökonom Ricardo Hausmann erinnert an eine schon einige Jahre zurückliegende Lobesrede des Nobelpreisträgers. Er hatte die Sozial- und Wirtschaftspolitik Venezuelas gelobt. Das Land erlebt gerade eine Hyperinflation.
(Um Stiglitz den Gnadenstoß zu verpassen, muss man irgendetwas finden, das seine Inkompetenz „beweist“. Zum Glück hat er in seinem Leben unzählige Reden gehalten, Bücher geschrieben und in Fachzeitschriften publiziert – eine Liste mit den Titeln seiner Aufsätze und Bücher ist ca. 50 Seiten lang. Es spielt keine Rolle um was es sich handelt, wie lange es zurückliegt und um welches Land der Welt es geht. Die anscheinend falsche Prognose bezüglich Venezuela von vor X Jahren eignet sich hervorragend. Dabei ist völlig egal, dass die derzeitige Hyperinflation vielleicht gar nicht auf die Sozial- und Wirtschaftspolitik von damals zurückzuführen ist. Wichtig ist nur, Stiglitz’ Prognosen bezüglich Griechenland nicht zu erwähnen: Er sagte die katastrophale wirtschaftliche Entwicklung Griechenlands der letzten Jahre als Folge der Sparpolitik nämlich bereits vor einigen Jahren vorher)

Stiglitz und Krugman übrigens äußern für die Griechen eine mehr oder weniger unverblümte Empfehlung: Sie sollen am Sonntag beim Referendum gegen das Sparprogramm stimmen. (…diese weltfremden Spinner, die nichts von Ökonomie verstehen!)




WARNUNG: Dieser Beitrag kann Spuren von Sarkasmus enthalten.

Beitrag ursprünglich veröffentlicht auf vwl-verstehen.de.tl im September 2015